„Ich bin etwas schüchtern“ von Elisabeth Longridge

Da ist jemand schüch­tern, ein Tier, von dem man zunächst nur den Kopf und den (nicht ganz kur­zen) Hals sieht, aber ver­mut­lich wis­sen sogar schon klei­ne­re Kinder sofort, dass das ein Pfau ist. Ein ande­rer Pfau will von ihm wis­sen, war­um er sich ver­steckt. Die Antwort: Er ist schüch­tern, da alle immer auf sei­nen gro­ßen, lan­gen Schweif schau­en wür­den. Der ande­re Pfau nimmt ihn mit zu vier Freunden: dem Schwan mit dem super­lan­gen Hals, der Eule mit den super­gro­ßen Augen, dem Flamingo mit den super­lan­gen Beinen und dem Tukan mit dem super­gro­ßen Schnabel. Alle vier fin­den Hals, Augen, Beine und Schnabel super, so wie sie sind. Daraufhin fasst der schüch­ter­ne Pfau Mut und zeigt sich so, wie er ist. Man kann sagen: in all sei­ner Pracht. Und die Moral von der Geschicht steht am Schluss: „Es gibt kei­nen Grund, schüch­tern zu sein – wir sind alle beson­ders, ob groß oder klein.“

Tatsächlich ist man­ches im Buch gereimt, aber bei Weitem nicht alles. Es ist ziem­lich wenig Text, pro Doppelseite maxi­mal vier Zeilen, und die Buchstaben sind recht groß. Das passt zu den schö­nen Illustrationen, die jeweils über eine Doppelseite gehen. Sie sind ruhig, klar und redu­ziert, auf eine sehr anspre­chen­de Weise. Das Cover ist ein gutes Beispiel: viel freie wei­ße Fläche, die Tiere mit einer pas­sen­den, cha­rak­te­ris­ti­schen Umgebung – und auf jedem Bild immer klei­ne, zar­te Schmetterlinge, die ja unter ande­rem ein Symbol für Wandel sind, für Hoffnung und Leichtigkeit.

Durch die zeit­lo­sen Illustrationen und die ein­fa­che, star­ke Botschaft ist das Buch etwas für Kinder wie für Erwachsene. Vermutlich füh­len sich von dem Titel auch mehr Menschen ange­spro­chen, als man den­ken würde …

Elisabeth Longridge: Ich bin etwas schüchtern
Aus dem Englischen von Anne Brauner
32 Seiten
ab 4 Jahren
2023 Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978-3-7725-3121-7
16 Euro

„Fang. Eine Tiergeschichte aus dem achten Stock“ von Jonny Bauer und Stephan Lomp

Darko wohnt in einem acht­stö­cki­gen Hochhaus im ach­ten Stock und ist Tierforscher, er hat eine Spezialweste mit vie­len Taschen und Dingen dar­in (zum Beispiel Knallfrösche und Schnur) sowie ein Tierlexikon. Als es reg­net, will er Regenwürmer fan­gen, doch sei­ne Mama lässt ihn nicht raus. Also angelt er ein­fach aus dem Fenster. Und fängt nach­ein­an­der einen Brillenpelikan, einen Brüllaffen, einen Großen Ameisenbären, einen China-Alligator und einen Waldelefanten. Nicht etwa ganz all­ge­mein einen Pelikan, Affen, Ameisenbären, ein Krokodil und einen Elefanten – ver­ständ­lich, wenn kind ein Tierlexikon hat, und ein char­man­ter Aspekt im Buch. Zumal die Namen durch­aus fan­ta­sie­voll klin­gen, sie sind aber alle­samt echt.

Die fünf Tiere kön­nen ganz selbst­ver­ständ­lich reden und hel­fen eins nach dem and­ren und auf ihre Weise Darko bei sei­nem Regenwurmfangprojekt, doch ohne Erfolg. Als der Regen auf­hört, müs­sen alle schnell raus, da Regenwürmer dann bekannt­lich wie­der ver­schwin­den. Draußen wer­den die fünf Tiere ins Tierlexikon gesaugt, das Darko am Anfang wütend aus dem Fenster geschleu­dert hat­te, und der Regenwurm dane­ben sucht auch das Weite. Darko macht das nichts aus, er freut sich schon auf das nächs­te Regenabenteuer …

Die Illustrationen erstre­cken sich jeweils über eine Seite oder Doppelseite, die Texte sind mal kür­zer und mal län­ger, mit Luft dazwi­schen und in ordent­lich gro­ßer Schrift. Die Tiere sind ein­fach und freund­lich gehal­ten, und sie tau­chen auch nicht erst an der Angel auf, son­dern zuvor in Darkos Zimmer: als Plüschtier, Zeichnung, Spardose oder Dekofigur. Die kann das Kind, dem vor­ge­le­sen wird, ja suchen, wenn es die Geschichte bes­ser kennt.

Für die erwach­se­nen Vorleserinnen und Vorleser bie­tet das Buch eben­falls ein paar Hingucker, vom eher tris­ten Hochhaus über einen Schummelspruch an der Kinderzimmertür bis zur Regelerfindungsversammlung in Sachen Regenwurmjagd. Ein Buch für Hochhauskinder, Regenstunden und alle mit Fantasie, denn man kann die Geschichte gut wei­ter­spin­nen – wel­che Tiere könn­te Darko noch fan­gen? Und wel­che Regenabenteuer könn­te er spä­ter erleben?

Fang. Eine Tiergeschichte aus dem ach­ten Stock
Text: Jonny Bauer, Illustrationen: Stephan Lomp
Lektorat: Kim Laura Franzke
40 Seiten
ab 4 Jahren
2023 annet­te betz
ISBN 978-3-219-11969-5
16 Euro

„The truth behind your lies“ von Silke Heimes

Fünf Jugendliche – Emmy, Rod, Ann, Flo und Jens – rei­sen nach dem Abi für zwei Wochen in die Schweiz, in einer Hütte in den Bergen wol­len sie eine gute Zeit haben und abschal­ten, die Handys sol­len off­line blei­ben. Die Hütte hat ein Mitschüler für sie orga­ni­siert, Jan, aller­dings nicht aus Freundschaft, son­dern da er spe­zi­el­le Pläne hat. Die Clique hat­te ihn in der Schule gemobbt, nun will er sich rächen, dazu instal­liert er diver­se Kameras in der Hütte. In einem extra ange­leg­ten YouTube-Kanal will er Videos aus der Hütte ein­stel­len und die fünf bloß­stel­len. Denn Rache ist süß?

Bei sechs Personen und rund 280 Buchseiten hat die Autorin sich dafür ent­schie­den, auf zwei Jugendliche näher ein­zu­ge­hen, mehr über ihren Hintergrund preis­zu­ge­ben: Die Kapitel sind abwech­selnd aus Jans Perspektive und aus der von Emmy erzählt. Der Blick des Außenseiters also im Wechsel mit dem Emmys, die in der coo­len Clique und in der Hütte ist und sowohl in ihrem Blog „back to natu­re“ als auch auf Instagram mög­lichst makel­lo­se Fotos und Posts einstellt.

Es ist nun kei­ne Überraschung, dass die fünf in der Hütte kei­nes­wegs per­fekt sind, sie alle haben ihre Probleme und ihre Art, damit umzu­ge­hen, von Drogen und Alkohohl über Essstörung bis Selbstverletzung. Jan, der Cello spielt, als Haustier eine Maus hat und Bach mag, wohnt wäh­rend­des­sen in einer nahe gele­ge­nen Pension. Mit der Tochter der Besitzer scheint ihn etwas zu ver­bin­den, schnell fühlt er sich ihr näher als Emmy, die trotz des Mobbens bis­her sein Schwarm war.

Die Mischung aus „Urlaub genie­ßen auf Teufel komm raus“ und Rachefeldzug ist, man kann es sich den­ken, ziem­lich explo­siv, zumal es zwi­schen den fünf in der Hütte eben­falls diver­se Spannungen und Unausgesprochenes gibt. Die Ballung von Problemen bei den Jugendlichen ist etwas hef­tig und das Setting mutet eher expe­ri­men­tell als „rea­lis­tisch“ an. Wem gibt die Leserin, der Leser zudem ihre bzw. sei­ne Sympathie, wenn das eins­ti­ge Opfer zum Täter und die Täterinnen und Täter nun zu Opfern werden?

In einer „Nachbemerkung“ schreibt die Autorin – die Medizin stu­diert und als Ärztin in Psychiatrien gear­bei­tet hat –, dass „wir alle in Schwierigkeiten kom­men kön­nen“ und man sich dann Hilfe suchen, aber zugleich für and­re da sein sol­le. In der Geschichte jeden­falls wird das Mit-sich-selbst-Ausmachen auf die Spitze getrie­ben – als abschre­cken­des Beispiel? Das Buch hat eine Triggerwarnung, die jedoch am Schluss steht, der Hinweis dar­auf fin­det sich in klei­ner Schrift vorn über dem Impressum. Ob das auf­fällt und reicht?

Silke Heimes: The truth behind your lies
288 Seiten
ab 14 Jahren
2023 Ueberreuter
ISBN 978-3-7641-7134-6
18 Euro