„Lass mich!“ von Kathrine Nedrejord

Das ist mal wie­der ein Buch, das mir zu den­ken gege­ben hat, in der Hauptsache geht es um eine Freundschaft, in der eine Person aus­ge­nutzt, mani­pu­liert und her­ab­ge­wür­digt wird. Ich-Erzählerin ist Anna, fünf­zehn Jahre, die mit ihrer Mutter, einer Samin, in einer klei­nen nor­we­gi­schen Stadt lebt, ihren Vater nicht kennt und eine ein­zi­ge Freundin hat, Amanda. Amanda sieht „nor­we­gisch“ aus, Anna nicht. Amanda ist offen, geht auf Leute zu, hat kein Problem damit, im Mittelpunkt zu ste­hen. Anna wird rot und bekommt kaum einen Satz her­aus, wenn ein Junge sie anspricht. Und damit beginnt das Buch: Ein Junge, Samuel, spricht sie im Kiosk an und dringt in ihr Leben ein. Er bean­sprucht einen Platz dar­in und ist damit ein Konkurrent für Amanda.

Amanda will die Einzige sein, sie hat ande­re Freundinnen und Beziehungen zu Jungs, Anna jedoch muss berich­ten, mit wem sie redet und was sie macht, alles muss sie erzäh­len, ande­re Freundinnen darf sie nicht haben. Es ist ein ziem­lich kras­ses Bild, das die Autorin, Kathrine Nedrejord, von die­ser Beziehung zeich­net. Amanda ist die Sonne, um die sich Anna dre­hen soll, es darf kei­ne Sonne neben Amanda geben. Und wenn Anna mal nicht macht oder sich nicht ver­hält, wie sie soll, gibts eine Strafe für sie, fie­se Bemerkungen zum Beispiel oder Amanda igno­riert sie, ist auf ein­mal dicke mit ande­ren Mädchen, über die sie vor­her noch geläs­tert hat.

Anna ist abhän­gig von Amanda, sie hat einen Amanda-Filter, mit dem sie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler betrach­tet, bloß Samuel sieht sie mit eige­nen Augen, ihn will sie sich nicht madig machen las­sen von Amanda. Was schwer ist, da Amanda eine Meisterin der Manipulation ist und nach jah­re­lan­ger soge­nann­ter Freundschaft weiß, wie Anna „funk­tio­niert“. Dennoch schiebt Samuel, die Beziehung zu ihm etwas bei Anna an, ein lang­sa­mes, müh­sa­mes Loslösen von Amanda. Wobei die Liebesgeschichte zwi­schen Samuel und Anna auch kei­ne hell­blaue mit Schäfchenwolken ist, son­dern durch­aus eine mit Störeffekten. Die Szene, in der Samuel zum ers­ten Mal Kontakt zu Anna auf­nimmt, ist der­ma­ßen unaus­ge­wo­gen, dass für mich die wei­te­re Entwicklung zwi­schen den bei­den einen scha­len Beigeschmack hat­te. Die Beziehung zwi­schen Anna und Amanda ist also nicht das ein­zi­ge Problemfeld, auch die zwi­schen Anna und Samuel ist kei­ne hol­ly­wood­mä­ßi­ge Lovestory, und das fin­de ich gut.

Auch mit der Mutter gibts Reibereien, wie das mit Eltern oft so ist, will die Mutter ihrer Tochter das ein oder ande­re vor­schrei­ben, als wüss­te sie, was bes­ser für sie ist. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist aber eine auf Augenhöhe, Eltern müs­sen eben auch erst mal ler­nen, dass ihre Kinder erwach­sen wer­den und eige­ne Entscheidungen tref­fen kön­nen und wol­len. Und dann ist da noch Annas Opa, der ihr enorm wich­tig ist. Seit er nicht mehr gesund und stark ist, hat sie jedoch eine Scheu davor ent­wi­ckelt, ihn zu besu­chen, in die­ser Beziehung macht sie eben­falls eine Entwicklung durch. Zu vie­le Beziehungen und Probleme für ein Buch mit nicht ganz 200 Seiten? Nö, gar nicht, son­dern ein­fach näher am Leben dran, in dem geht es ja auch eher kom­plex zu.

Das Buch ist aus dem Norwegischen ins Deutsche über­setzt, es hat sei­nen ganz eige­nen Stil. Manchmal eine Spur zu alt­mo­disch, wie ich fin­de, man kann das ein­fach lesen und hin­neh­men oder sich mal fra­gen, ob Fünfzehnjährige wirk­lich so reden. Bei Übersetzungen wüss­te ich dann immer gern, wie das wohl im Original ist, ver­glei­chen kann ich es in die­sem Fall nicht. Aber das ist nur eine Kleinigkeit, die nichts dar­an ändert, dass das Buch sehr lesen­wert ist und auch Anstoß sein kann zu schau­en, ob es im eige­nen Leben mani­pu­la­ti­ve Beziehungen gibt. Das muss ja längst nicht so extrem sein wie im Buch. Ein Buch, das so etwas leis­tet und zwar ohne irgend­ei­ne Moral- oder sons­ti­ge Keule zu schwin­gen, das fes­selt und die Spannung bis zum Schluss hält, ist kei­ne Selbstverständlichkeit, also Hut ab vor der Autorin!

Kathrine Nedrejord: Lass mich!
Aus dem Norwegischen von Holger Wolandt (Originaltitel: „Slepp meg“)
199 Seiten
ab 14 Jahren
2019 Urachhaus
ISBN 978-3-8251-5219-2
17 Euro

„Becoming Elektra“ von Christian Handel

Drei Wochen im Jahr 2083, die Isabels Leben auf den Kopf stel­len. Isabel ist ein „Mensch zwei­ter Klasse“, eine Klonin. Sie lebt in einem Institut, aus dem sie nie raus­darf, sie und die ande­ren Kloninnen und Klone sind Ersatzteillager für die Menschen, deren Kopien sie sind. Als Isabels Original, Elektra Hamilton, stirbt, wird Isabel aus dem Institut geholt und soll Elektra erset­zen. Sie lan­det in einem herr­schaft­li­chen Haus, in einer Familie, die sie alles ande­re als mit offe­nen Armen emp­fängt, Ausnahme: Elektras Vater, der um jeden Preis will, dass sie eine arran­gier­te Verlobung in Sack und Tüten bringt. Frei ist Isabel somit auch jetzt nicht, und noch dazu in gro­ßer Gefahr. Denn Elektra ist kei­nes natür­li­chen Todes gestor­ben und nie­mand sagt Isabel, was wirk­lich gespielt wird …

Es ist nicht leicht, bei Kinder- und Jugendbüchern halb­wegs fri­sche Themen zu fin­den bzw. sie so umzu­set­zen, dass sie noch frisch rüber­kom­men. Christian Handel ist das gelun­gen, sein Buch über Klone, über ihre Rolle und den Umgang mit ihnen, ist packend von der ers­ten bis zur letz­ten Seite. Er erzählt so, dass es die Leserin, den Leser in die Geschichte zieht, sie ist nach­voll­zieh­bar und nah, obwohl sie etli­che Jahre in der Zukunft spielt. Im Mittelpunkt ste­hen Menschen und ihr Beziehungsgeflecht, auch die Nebenfiguren wir­ken authen­tisch und leben­dig, sie sind nicht nur Statistinnen und Statisten. Die Geschichte ist nicht kom­pli­ziert, aber alles ande­re als sim­pel, sie hält ein paar Überraschungen parat und macht süch­tig, man kann gar nicht auf­hö­ren zu lesen. Sie lädt zum Abtauchen in eine ande­re Welt ein, hat aber mit dem Klonen ein Thema, über das man durch­aus ins Grübeln kom­men kann.

Ein Hingucker ist das tol­le Cover, das Motiv wie­der­holt sich auf dem Buchrücken, „Becoming Elektra“ macht sich also auch pri­ma im Regal. Etwas über 400 Seiten hat das Buch, das Ende bie­tet Stoff für eine Fortsetzung, die aber, so der Autor im Nachwort, nicht geplant ist. Ich finds gut, dass die Geschichte nicht bis zum Letzten aus­ge­walzt wird, dann spinnt man sie eben selbst wei­ter – und freut sich auf eine gänz­lich neue, die hof­fent­lich nicht all­zu lang auf sich war­ten lässt.

Christian Handel: Becoming Elektra. Sie bestim­men, wer du bist
Lektorat: Emily Huggins
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
416 Seiten
ab 14 Jahren
2019 ueberreuter
ISBN: 978-3-7641-7094-3
17,95 Euro

„Wenn wir nach den Sternen greifen“ von Kathleen Weise

Der Countdown läuft: Ianthe hat eine Woche Zeit, sich von ihrem Vater zu ver­ab­schie­den, der in drei Wochen zum Mars flie­gen wird – eine Woche Abschiednehmen mit der Familie, zwei Wochen Quarantäne. Das Buch spielt im Jahr 2039, also in einer rela­tiv nahen Zukunft. Sie erscheint einem sehr ver­traut, so könn­te es sein, wenn alles mehr oder weni­ger genau­so wei­ter­geht wie bis­her: Probleme unse­rer Zeit haben sich noch ver­grö­ßert, so der Klimawandel und die Kluft zwi­schen Arm und Reich. Technisches wur­de wei­ter­ent­wi­ckelt und ver­bes­sert, dafür hat sich die Autorin Namen aus­ge­dacht, die ganz authen­tisch klin­gen, wie „Magmag“ („meist­ver­kauf­tes Smartphone der Welt ab 2031 im Bereich Wearables“) und „Silver Orb“ („trag­ba­res Soundsystem, seit 2036 Marktführer“). Fake News gibts nach wie vor in Massen und des­we­gen auch immer mehr „Quellenprüfer“ („in Deutschland seit 2023 aner­kann­ter Studiengang“), und die „First-Mother-Bewegung“ will die Raumfahrt abschaf­fen und dass das Geld statt­des­sen in die Erde inves­tiert wird.

Es passt natür­lich, dass im Jahr 2019 die­ses Buch erscheint, das den Start der ers­ten bemann­ten Mars-Mission im Jahr 2039 ansie­delt, denn am 21. Juli 1969 betra­ten Neil Armstrong und Buzz Aldrin im Rahmen der Mission Apollo 11 als ers­te Menschen den Mond. „Wenn wir nach den Sternen grei­fen“ beginnt drei Wochen vor und endet mit dem Start der Rakete, im Mittelpunkt steht das Abschiednehmen – wie die 17-jäh­ri­ge Ianthe, ihre jün­ge­re Schwester Sanja, ihre Mutter und der Vater damit umge­hen. Drei Jahre dau­ert die Mission im All, falls etwas schief­läuft, ist es ein Abschied für immer.

Von der Welt „außen“ bekommt man im Buch fast nichts mit, Ianthe und ihre Familie ver­brin­gen die Zeit bis zum Start der Mars-Mission auf einem abge­schot­te­ten, schwer bewach­ten Gelände in Florida in der Nähe des Kennedy Space Center, eben­so wie die Familien der ande­ren Astronauten. Sie sind viel am Strand, gehen ins Kino und essen, leben wie unter einer Glocke, die alles abdämpft, auch das ein oder ande­re Ereignis, das die Ruhe eigent­lich emp­find­lich stö­ren soll­te. Ianthe muss zudem ent­schei­den, wie es nach dem Start für sie wei­ter­ge­hen soll. Sie macht erfolg­reich Musik und hat ein Angebot von einem Musiklabel, müss­te aber von Mutter und Schwester weg­zie­hen, wenn sie es annimmt …

„Wenn wir nach den Sternen grei­fen“ ist gekonnt und flüs­sig geschrie­ben, die 220 Seiten lesen sich schnell. Geschichte und Figuren blei­ben etwas an der Oberfläche, viel­leicht hät­ten sie mehr Platz bzw. Seiten zum Entfalten gebraucht. Bei dem Stoff wäre pro­blem­los eine dra­ma­ti­sche­re Story zum Mitfiebern mög­lich gewe­sen – so ist es ein eher ruhi­ges Feel-Good-Buch, das den­noch fes­selt. Nicht zu ver­ges­sen das schö­ne Cover mit dem Mädchen, das in den Himmel und zu den Sternen schaut: Nicht nur ihr Vater, auch sie greift danach.

Kathleen Weise: Wenn wir nach den Sternen greifen
Lektorat: Angela Iacenda
220 Seiten
ab 14 Jahren
2019 ueberreuter
ISBN 978-3-7641-7093-6
16,95 Euro