Ein Buch für den Kopf, nicht fürs Herz: „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“

Ja, Kopf oder Herz, das ist ein biss­chen pla­ka­tiv, aber es passt: Auf Empfehlung habe ich die­ser Tage Joël Dickers „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ gele­sen. Das Buch lag eine Weile her­um, unter ande­rem, weil es über 700 Seiten hat. Kleine Schrift. Die Zeit muss man ja erst mal haben. Und mein Bücherstapel ist groß. Als ich nun also las, konn­te ich nicht mehr auf­hö­ren. Und Seiten über­sprin­gen bzw. über­flie­gen, was man­che Wälzer pro­blem­los erlau­ben, ging lei­der auch nicht. Weil es dau­ernd wich­ti­ge Wendungen gab und kei­ne Seite zu viel war.

Es ist eine Art Krimi, mit Leiche und Ermittlungen. Es ermit­telt Marcus Goldman, Schriftsteller, Anfang drei­ßig, der einen Erfolgsroman ver­fasst hat und dem danach nichts Neues ein­fällt. Da kommt ihm der Fall (kann man wört­lich neh­men, Fall wie fal­len) sei­nes Mentors, des berühm­ten Schriftstellers Harry Quebert, gera­de recht. Natürlich nur aus Freundschaft reist Marcus in die Höhle des Löwen und ver­sucht her­aus­zu­be­kom­men, was vor drei­und­drei­ßig Jahren zwi­schen Harry Quebert und Nola geschah.

Das Buch wech­selt zwi­schen Vergangenheit (1975) und Gegenwart (2008), wie eine Zwiebel, Schicht um Schicht, ent­blät­tert Marcus die alte Geschichte, bis er am Ende schließ­lich auf die nack­te Wahrheit stößt. Vielleicht. Kurzweilig ist das Buch, fes­selnd. Aber es packt einen nicht unmit­tel­bar, es zieht einen nicht in einen emo­tio­na­len Sog, es bleibt eine Distanz, das Ganze ist gar zu per­fekt kon­stru­iert, man sieht zum Ende hin regel­recht den Autor, Joël Dicker, am Roman-Reißbrett vor sich, wie er noch eine Wendung rein­packt und dabei zufrie­den oder leicht ver­rucht grinst. Es ist nur „eine Art“ Krimi, da im Zentrum der Geschichte die zwei Schriftsteller, Marcus Goldman und Harry Quebert, ste­hen – ihre Mühen beim Schreiben, das Nichtschreibenkönnen, das glück­li­che Schreiben usw., noch dazu ist jedem Kapitel ein Tipp, den Mentor Quebert sei­nem Protegé Marcus einst zum Buchschreiben gege­ben hat, vorangestellt.

Zweierlei hat mich an dem Buch genervt: zum einen der Name der weib­li­chen Hauptfigur, Nola. Das klingt so schreck­lich nach „nölen“. Zum andern die Beziehung zwi­schen Harry Quebert und Nola. Ich ver­ra­te jetzt mal, dass der Mann über drei­ßig und das Mädchen fünf­zehn ist, als sie sich ver­lie­ben. Nun geht das Buch nicht ins Detail, der Autor über­lässt es der Fantasie des Lesers, ob die bei­den ins Bett stei­gen oder nicht. Jedenfalls duzt er sie und sie siezt ihn. Eisern. Wenn Joël Dicker auf Englisch geschrie­ben hät­te, könn­te man’s auf den Übersetzer schie­ben, aber das Original ist fran­zö­sisch, und da gibt es kein „you“, son­dern „tu“ und „vous“. Ein wich­ti­ges Element der Geschichte ist also die­se Liebe zu einer Minderjährigen. Die ver­meint­lich ganz gro­ße Liebe mit schmach­ten­dem Mädchen und Hin-und-weg-Mann, der sich zusam­men­rei­ßen will, weil das ja alles nicht geht mit der Kleinen. Muss das sein? Gähn!

Trotzdem mag ich das Buch. Weil es span­nend ist. Weil man sich nach dem Lesen noch den Kopf dar­über zer­bre­chen kann (wenn man Lust hat). Und weil es von Autoren und vom Schreiben handelt.