Mutti ist schuld: „Mutterschuldgefühl“ von Ulrike Hartmann

Ich bin über­zeugt davon, dass Eltern durch­aus zu vie­le Ratgeber und Sachbücher zum Thema „Wie erzie­he ich mein Kind rich­tig?“ lesen kön­nen. Und wer hat denn über­haupt Zeit dafür? Die Tyrannen-Bücher hab ich mir erspart. Jirina Prekop hab ich mal live erlebt – und danach dan­kend auf ihre Bücher ver­zich­tet. Von Jesper Juul steht natür­lich was im Regal. Aber gele­sen? Nee, wann denn?

Für „Mutterschuldgefühl“ von Ulrike Hartmann hab ich mir die Zeit genom­men (schließ­lich woll­te ich das rezen­sie­ren). Sie schreibt auch sehr unter­halt­sam, ein Ratgeber im eigent­li­chen Sinne ist das Buch nicht. Eher eine Mischung aus Selbsterlebtem und hand­fes­ten Informationen. Hier wird der Weg der Mütter mit ihren Kindern von der Schwangerschaft bis in die Schulzeit hin­ein erzählt. Besser gesagt: der Weg der Autorin mit ihren bei­den Töchtern. Ihr Erleben steht exem­pla­risch für das vie­ler Mütter. Dabei trifft Ulrike Hartmann einen Ton, der zum Weiterlesen ani­miert: ein wenig Plaudern, aber nicht ober­fläch­lich, leicht, mit einem Schuss Ironie. Das liest sich sehr gut.

Los geht es mit den Mutterschuldgefühlen nicht etwa erst, wenn das Kind gebo­ren ist. Nein, davor kom­men bei­spiels­wei­se die Risikofaktoren. Mittlerweile gibt es 53 Risikofaktoren, dar­un­ter: Adipositas, Kleinwuchs, das Alter der Mutter (unter 18, über 35 Jahren). So wer­den 70 % der Frauen gleich als Risikoschwangere ein­ge­stuft – in Skandinavien sind es laut Ulrike Hartmann gera­de mal um die 20 %.  Und was nicht alles geprüft und gemes­sen wird, wenn frau schwan­ger ist! Der Arzt mutiert schnell zum Vertreter für prä­na­ta­le Diagnostik, und die Frau fühlt sich „schwan­ger-krank“. Dass sie sich Gedanken über das Kind, die Familie, die Zukunft, die Welt macht, gehört zu einer Schwangerschaft. Aber das kann schnell extre­me Züge anneh­men. Sie könn­te sich aufs Kind freu­en – und hat Angst vor Katzen (Toxoplasmose!), anste­cken­den Krankheiten, dem Feinultraschall usw. Mutter wer­den und nicht Patientin sein – wem gelingt das?

Wenn das Kind end­lich da ist, kann sich der Druck auf die Mutter ordent­lich ent­fal­ten. Sie muss alles per­fekt machen: das Kind pau­sen­los beauf­sich­ti­gen (damit kein Nachbar sich beschwert, wenn man es mal hört), das Richtige tun (Drama an der Supermarktkasse – was hat die Frau nur falsch gemacht bei der Erziehung …), das Richtige kau­fen. Zum Beispiel den Kinderwagen, der gera­de „in“ ist – ja doch, der Kinderwagen als Statussymbol! Schuldig füh­len sich auch man­che Mütter, die nicht stil­len kön­nen oder wol­len, die Autorin spricht vom „Still-Zwang“ und gar einer „Still-Mafia“. Dieser Abschnitt ist der ein­zi­ge, in dem mich der poin­tier­te Stil stört, das Stillen wird mir gar zu schwarzgemalt.

Ansonsten hat­te ich beim Lesen vie­le Aha-Momente und sol­che, in denen ich die Augen ver­dre­hen muss­te. Oder was soll man denn von einem Englisch-Kurs für Babys im Alter von 3 bis 18 Monaten hal­ten? Das Kursunwesen für Mutter und Kind nimmt die Autorin aus­gie­big aufs Korn. Statt drau­ßen zu toben, mes­sen Mütter und Kinder sich in Sportkursen, und um ande­re Mütter zu tref­fen und mal aus den eige­nen vier Wänden raus­zu­kom­men, geht man eben in den PEKIP-Kurs. Die Mitmütter sind zwar gute Informationsquellen (Essen, Einkauf) und Gesprächspartnerinnen , doch schnell wer­den die Kinder ver­gli­chen: Wer läuft frü­her, wer kann was, wie kann ich mein Kind best­mög­lich fördern …

Eine Norm gibt es auch bei den U‑Untersuchungen beim Kinderarzt, schnell ist ein Kind zu klein, zu dünn, zu dick oder hat einen zu gro­ßen Kopf. Und die Normung geht immer wei­ter: Im Kindergarten gibt es „Personalakten für die Kleinsten“, in der Schule ste­hen dann alle gemein­sam unter Leistungsdruck – Kinder, Lehrer und Eltern müs­sen gute Noten erbrin­gen in einem Schulsystem mit dem Leitspruch „Wie mache ich die bes­te Bildung mit mög­lichst wenig Geld?“. Und wer nicht damit klar­kommt, hat eben Pech.

Zum Ende hin wird das leicht grus­lig, denn Kinder, denen alles zu viel wird und die schon Angst vor der Schule oder sogar Depressionen haben – das kann doch eigent­lich nicht sein?! Ulrike Hartmann schließt jedoch mit einem auf­mun­tern­den Plädoyer, gegen den „Leistungswahn in unse­rer Gesellschaft“, gegen das „Ideal der per­fek­ten Mutter“ und Mutterschuldgefühle. Für eine ent­spann­te Mutter, die nicht auf Biegen und Brechen ver­sucht, ihr Kind von Anfang an opti­mal für sei­ne spä­te­re Karriere als Rechtsanwalt oder Ärztin zu präparieren.

Wir haben also den Lernprozess einer Mutter mit­ver­folgt, die nicht gera­de gegen den Strom schwimmt bzw. schwim­men muss. Sie hat zwei gesun­de Kinder, nimmt sich für sie Zeit, infor­miert sich, enga­giert sich im Kindergarten und in der Schule, wenn das erwünscht (oder gefor­dert) ist. Am Ende hat sie den Druck durch die Gesellschaft (Normen hier, Normen da) erkannt und will nicht mehr in die Mutterschuldgefühlfalle tre­ten. Ob das zu schaf­fen ist, ist die ande­re Frage. Frau braucht schon viel Gelassenheit, um im prä­na­ta­len Zirkus gelas­sen zu blei­ben. Und wie bewahrt man die Ruhe, wenn es in der Schule Probleme gibt? Kann man sich wirk­lich aus dem Leistungszirkus aus­klin­ken? Ich hab da so mei­ne Zweifel. Aber nichts­des­to­trotz: Dieses Buch ist abso­lut emp­feh­lens­wert. Weil es sich pri­ma liest und einen zum Nachdenken bringt.

Ulrike Hartmann
Mutterschuldgefühl
Vom täg­li­chen Anspruch, immer das Beste für die Kinder zu wollen
Verlag süd­west, 2010
ISBN: 978–3‑517–08631‑6
16,99 Euro