„Suna“ ist eine Familiengeschichte, eine, die den Leser in ihren Sog zieht, ohne langen Anlauf, man ist sofort drin, was an den wunderbaren ersten Sätzen liegt und an der Ich-Erzählerin, die ihrem kleinen Kind ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Familie, erzählt. Es sind starke Figuren und ihnen ist ein bisschen Wunder gegönnt – neu ist das nicht, aber es würde fehlen, wenn die Autorin darauf verzichtet hätte: auf Intuition, lebendige Träume und dieses „Besondere“, wie man es aus manchen Familiensagas kennt – dass zwei füreinander bestimmt sind, zum Beispiel, dass sie sich finden und erkennen und zusammenbleiben oder dass einem Paar ein letzter richtiger Abschied vergönnt ist, bevor einer für immer geht. Aber „Suna“ ist kein Märchen – selbst wenn diese Familiengeschichte erfunden sein sollte, scheint sie doch wahr, und sie spielt in den vergangenen achtzig Jahren: So wird die Mondlandung im Fernsehen verfolgt und man liest, was der Krieg mit Frauen, Männern und Kindern macht, mit denen, die einem in „Suna“ ans Herz wachsen. Gut und Böse sind nicht eindeutig, wie das im Märchen meist so schön ist, Pia Ziefles Figuren sind vielschichtig. Und ob es ein Happy End gibt, verrate ich hier nicht.
Das Buch ist nicht dick, knapp über 300 Seiten, und die Schrift ist angenehm zu lesen, nicht zu klein. Auf diesen 300 Seiten geschieht viel, das wäre durchaus Stoff für einen richtig dicken Wälzer gewesen, doch dass die Erzählerin, Luisa, ihre Geschichte in sieben Nächten erzählt, setzt Grenzen – das gibt dem Ganzen Struktur und bringt Ordnung in ein Familienbeziehungsgewirr, in eine Familie, deren Mitglieder aus drei Ländern stammen, Serbien, Türkei, Deutschland.
Das Kind, welches die Geschichte erzählt bekommt, ist etwa ein Jahr alt, und es schläft nicht, es kommt nicht zur Ruhe. Eine „alte Seele“ habe es, meint der Dorfarzt, der nach der Hausgeburt das Kind untersucht und an den sich die junge Mutter später verzweifelt wendet. Denn das Kind schläft nicht nur nachts nicht, es wächst auch nur zögerlich. Ein Kinderarzt stellt eine Diagnose in den Raum und fragt nach der Familie – speziell nach der Generation der Großeltern –, nach den Krankheiten, den Genen. Der alte Dorfarzt fragt ebenfalls nach der Familie, doch aus anderem Antrieb. Die Mutter des Kindes, Luisa, müsse sich mit ihrer Familie auseinandersetzen, meint er: Sie, die Tochter, „ ‚kann keine Wurzeln schlagen‘, sagte er bedächtig. ‚Finden Sie Ihre‘ “. Was dadurch erschwert wird, dass Lusia adoptiert ist und ihre leiblichen Eltern nicht kennt
Rund ein Jahr lang recherchiert Luisa dann im Internet, in Familienpapieren und mehr, um endlich in besagten sieben Nächten ihrer kleinen, schlaflosen Tochter die Geschichte der Familie zu erzählen. Zweiter Weltkrieg, Gastarbeiter in Deutschland, Kalter Krieg, Krieg in Jugoslawien, die Italien-Urlaube der BRD-ler – dies und mehr ist verwoben mit der Familiengeschichte, von den Großeltern bis zur Ich-Erzählerin Luisa, die im „Jetzt“ lebt. Teils hat man das Gefühl, dass das alles ewig her sein muss, und dann leben die Großeltern doch noch, die alten Tanten, auch wenn sie wirklich alt sind. Ganz verschiedene Lebensentwürfe und verschiedene Menschen sind das, deren Leben sich zu einer Geschichte vereinen. Und zum Ende hin erfährt man auch, wer Suna ist und warum das Buch nach ihr heißt.
„Suna“ ist ein schönes, ein berührendes Buch, am Schluss kommen Tränen, es geht wohl gar nicht anders. Warum Tränen? Weil es vielleicht eine Erlösung gibt, weil die Ich-Erzählerin vielleicht zur Ruhe kommt und damit auch ihr schlafloses Kind. Ein gutes Buch.
Pia Ziefle: Suna
Ullstein
304 Seiten
18 Euro
ISBN: 978–3‑550–08892‑6