Ein fantastischer Raum: „Ines öffnet die Tür“ von Markolf Hoffmann

So kann man sich irren: Der Name Markolf Hoffmann klang für mich nach einem älte­ren Autor, doch Hoffmann ist Jahrgang 1975. Er lebt in Berlin, arbei­tet als frei­er Autor und ist Mitglied der Berliner Lesebühne „DasStirnhirnhinterZimmer“. Er hat bereits eine vier­bän­di­ge Fantasyreihe – „Das Zeitalter der Wandlung“ – sowie Kurzgeschichten in diver­sen Anthologien veröffentlicht.

Sein neu­es Buch „Ines öff­net die Tür“ ist im Januar 2012 erschie­nen, ein „fan­tas­ti­scher Jugendroman“, so steht es auf Seite drei. Die Geschichte spielt im Heute, und das wirkt auch ganz nor­mal. Ines, die Hauptperson, ist drei­zehn Jahre, bald wird sie vier­zehn, sie hat eine bes­te Freundin, Sonja, mit der sie durch dick und dünn geht, wie Pech und Schwefel sind sie, sie nen­nen sich auch manch­mal so. Diese Freundschaft ist wich­tig, und dane­ben spielt Ines‘ Familie eine gro­ße Rolle – der Vater ist Lehrer, die Mutter Sängerin (die ihre Stimme ver­lo­ren hat), der Bruder jün­ger und recht anhäng­lich. In der Schule hat Ines wei­ter kei­ne Probleme, nur eine Lehrerin macht ihr das Leben manch­mal schwer, Frau Wunder, die Mathe unter­rich­tet. Und für Ines ist Mathe kein Nebenschauplatz, seit sie vor einem Jahr beschlos­sen hat, Architektin zu wer­den (wofür sie eine gute Mathenote braucht).

Ab und zu besucht Ines‘ Familie die Großmutter väter­li­cher­seits, die Agnes heißt, was sicher nicht zufäl­lig ziem­lich ähn­lich klingt, Ines und Agnes. Und tat­säch­lich schenkt die Großmutter Ines etwas, und mit die­sem Geschenk tritt nun das Fantastische in das Buch: Agnes hat eine schil­lern­de Vergangenheit, sie ist in der Welt her­um­ge­kom­men und hat viel erlebt. Mit fast acht­zig Jahren lebt sie allein in einem alten Haus, einem „Hort der Wunder und Geheimnisse“. An den Wänden hän­gen nost­al­gi­sche Plakate, es gibt Schatullen mit Schmuck, Kleiderpuppen, vie­le dunk­le Winkel, und so ist es kei­ne ganz so gro­ße Überraschung, als Ines bei einem Besuch im Flur eine Tür sieht, die ihr vor­her noch nie auf­ge­fal­len ist.

Es ist eine Holztür mit einem Widderhorngriff – und die Tür scheint Ines anzu­star­ren. „In einem Gruselfilm, dach­te Ines, wür­de das Mädchen nun die Klinke her­ab­drü­cken und nach­se­hen, ob ein Monster oder ein Killer hin­ter der Tür lau­ert. Und was pas­siert dann?“ (Seite 7) Ja, was pas­siert dann? Ines öff­net tat­säch­lich eines Tages die Tür und betritt einen Raum. Der Raum gehört ihrer Großmutter Agnes, sie nennt ihn das Refugium. Ein Refugium ist ein „siche­rer Ort, an dem jemand sei­ne Zuflucht fin­det, an den er sich zurück­zie­hen kann, um unge­stört zu sein“, sagt der Duden. Und die­ses Refugium ist tat­säch­lich ein Ort, an dem Großmutter Agnes unge­stört bleibt, denn nur sie hat Zutritt zu ihm – und jetzt auch Ines, da die Großmutter sie ein­ge­la­den hat.

Der Raum sieht nicht unge­wöhn­lich aus, doch er ist es: Die Zeit läuft in ihm anders, und der Raum kann Wünsche erfül­len. Eher die klei­nen Wünsche, und das auf eine prak­ti­sche Art. So bekommt Ines für ein Fest ein Kleid, in dem sie ein­fach nur umwer­fend aus­sieht und einen Jungen aus ihrer Klasse, in den sie ver­liebt ist, Karol heißt er, beein­dru­cken kann. Für das Refugium gibt es vier Regeln, mahnt Agnes ihre Enkeltochter, und die müs­se sie unbe­dingt beach­ten: alle Gegenstände zurück­brin­gen, nicht mehr als drei­und­zwan­zig Stunden in dem Raum ver­brin­gen, nie­man­den ins Refugium mit­neh­men und nie das Fenster öffnen.

Natürlich bricht Ines im Laufe der Geschichte alle vier Regeln, und sie muss fest­stel­len, dass das alles nicht so harm­los ist: jemand, den sie liebt, ver­schwin­det, ein ande­rer wird ent­führt, ein alter Herr ver­folgt sie, und sie muss man­che Enttäuschung weg­ste­cken. Doch sie bleibt am Ball, wie man so schön sagt, und kann sich vor allem immer – bis auf eine Ausnahme – auf ihre Freundin Sonja ver­las­sen, sie­he Pech und Schwefel. Damit ist von der Geschichte genug ver­ra­ten, also noch ein paar Worte all­ge­mein zum Buch.

Es liest sich von Anfang bis Ende sehr gut, was zum einen an der Sprache liegt und zum ande­ren dar­an, dass der Autor nicht her­um­la­bert – er lässt die Personen ein­fach reden und han­deln, das ist alles sehr dicht und wirkt echt. Markolf Hoffmann ver­wen­det Wörter, die man heu­te nicht mehr so oft hört und liest, so schreibt er „es win­de­te“, die Katze liegt „brä­sig“ auf einem Sofakissen und Agnes wischt sich „das Regennass aus dem Gesicht“. Das ist schön! Und es ist dabei nicht auf­dring­lich, nicht so, dass es stö­ren wür­de, son­dern man merkt auf im guten Sinne.

Auf eini­ge Fragen gibt es am Ende Antworten, doch nicht auf alle: Warum mag Ines‘ Mutter, Carmen, Agnes nicht, gab es einen kon­kre­ten Anlass? Wer ist der geheim­nis­vol­le Benjamin? Wir dür­fen also mit einem zwei­ten Band rech­nen? Freut mich!

Ines öff­net die Tür
von Markolf Hoffmann
ab 12 Jahren
Ueberreuter 2012
ISBN: 978–3‑8000–5675‑0
288 Seiten
12,95 Euro

Cornelia Funke: „Geisterritter“

Wenn ich alle Bücher, die ich lesen möch­te, kau­fen wür­de, bräuch­te ich meh­re­re Zimmer vol­ler Bücherregale. Aus die­sem Grund schaue ich seit mitt­ler­wei­le Jahrzehnten (!) regel­mä­ßig in der Bibliothek vor­bei – auch des­we­gen, weil eine gute Bibliothek eine Fundgrube ist, die neben Bestsellern Bücher bie­tet, die nicht so im Rampenlicht stehen.

„Geisterritter“ von Cornelia Funke ist natür­lich ein Buch mit den bes­ten Startbedingungen: die Autorin, der Verlag (Cecilie Dressler Verlag), das Thema. Neulich bekam ich es in der Bibliothek end­lich in die Hände und las es in einem Rutsch durch. Es ist ab 10 Jahren und erin­nert mich von der Erzählweise, von der Stimmung her ein wenig an „Reckless“. Etwas Traumhaftes, leicht Melancholisches. Im „Geisterritter“ ist das zwar nicht so vor­der­grün­dig, wird aber durch die Bilder verstärkt.

Mit dem Maler und Buchillustrator Friedrich Hechelmann hat Cornelia Funke zum ers­ten Mal zusam­men­ge­ar­bei­tet. Seine Bilder sind unge­wohnt für Funke-Leser. Sie haben Tiefe, man kann sie sich rie­sen­groß vor­stel­len, die Natur und die Menschen sind mit Liebe zum Detail dar­ge­stellt, das Gras, die Blätter an den Bäumen, die wuchern­de Blütenhecke. Die Menschen ste­hen irgend­wie auf der Kippe zwi­schen „rea­lis­tisch“ und sur­rea­lis­tisch (eins fand ich wirk­lich grus­lig bis absto­ßend), und die Geisterszenen sind leicht ver­schwom­men, als wabe­re Nebel durch das Bild, so ein dif­fu­ses Strahlen von irgend­wo­her, ein blau­grü­nes Licht. Das sind kei­ne nied­li­chen Geister, kei­ne Karikaturen – und die­se Darstellung beein­flusst auch die Art und Weise, wie der Text auf den Leser wirkt.

Jon Whitcroft, die Hauptfigur, kommt in ein Internat in Salisbury und sieht Geister – die ihm Böses wol­len. Das Mädchen Ella rät Jon, den Geisterritter William Longspee um Hilfe zu bit­ten. Und so geht es in dem Buch um einen rit­ter­li­chen Kampf zwi­schen Gut und Böse, um Freundschaft und Liebe. Aber auch um die Konkurrenz zwi­schen Jon und dem neu­en Freund sei­ner Mutter, einem Zahnarzt, den er „Vollbart“ nennt. Die Geschichte ist wun­der­bar erzählt und fes­selnd, ein schö­nes Buch.

Auf Cornelia Funkes Website gibt es einen sehr aus­führ­li­chen und span­nen­den Bericht über die Entstehung der Bilder: „Zu Besuch beim Geisterritter-Illustrator Friedrich Hechelmann“

F. E. Higgins: „Das Schwarze Buch der Geheimnisse“

„Das Schwarze Buch der Geheimnisse“ von F. E. Higgins erschien 2007 (eng­li­sche Originalausgabe), 2008 kam die deut­sche Übersetzung im Oetinger Verlag her­aus (Übersetzer: Ulli und Herbert Günther). Der Einband des Buches ist natür­lich schwarz – mit Ornamenten, einem Frosch und erha­be­nen gol­de­nen Buchstaben.

In einer grau­si­gen Stadt, die sich wie 19. Jahrhundert liest, lebt Ludlow Fitch, ein Taschendieb. Seine Eltern küm­mern sich im bes­ten Fall nicht um ihn, im schlimms­ten ver­hö­kern sie sei­ne Zähne an einen Zahnarzt, der sie an rei­che Leute wei­ter­ver­kau­fen will. Natürlich müss­ten die (gesun­den!) Zähne erst mal raus, und das ist kein Spaß. Das Buch ist ab 12 Jahren, und das ist auch rich­tig so, denn F. E. Higgins ist wirk­lich nicht zim­per­lich bei ihren Schilderungen, ob es nun um bru­ta­le Zahnziehereien, ver­gif­te­te Pasteten oder töd­li­che Flüsse geht.

Ludlow hat noch mal Glück, er ent­kommt sei­nen Eltern und der stin­ken­den Stadt ohne Namen und lan­det mit­ten in der Nacht im Dorf Pagus Parvus – wie Joe Zabbidou, der Geheimnis-Pfandleiher. Ludlow wird Zabbidous Gehilfe. Der Pfandleiher ent­lockt den Dorfbewohnern ihre Geheimnisse und zahlt ihnen für ihre Geschichten gutes Geld. Ludlow schreibt die Geständnisse in das Schwarze Buch der Geheimnisse – vie­le ste­hen mit Jeremiah Ratchet in Verbindung, dem Tyrannen des Dorfes. Diesem sind Zabbidou und Ludlow ein Dorn im Auge, und er ist kein harm­lo­ser Gegner …

„Das Schwarze Buch der Geheimnisse“ ist eine span­nen­de Geschichte, bei der man nicht das Gefühl hat, sie so oder ähn­lich schon ein­mal gele­sen zu haben. Lesetipp ab 12 Jahren, hat mir sehr gut gefallen.

Von der Autorin außer­dem bei Oetinger erschie­nen: „Silbertod“ (2009) und „Das Gift der Schmetterlinge“ (2010).