Ein Katzenleben: „Wer hat Angst vor Kater Sam?“ von Runhild und Günter Arnold

Schwer zu sagen, für wen die­ses Buch gedacht ist. Vom Format und vom Cover her scheint es zunächst ein Bilderbuch zu sein. Ein Blick in das Buch: viel, viel Text, nur eini­ge weni­ge klei­ne Bilder. Also kein Bilderbuch. Kinder unter zehn Jahren wer­den mit der Geschichte noch nichts anfan­gen kön­nen, wie ich jetzt weiß. Und ob älte­re Kinder sich dafür inter­es­sie­ren? Die Zielgruppe dürf­ten doch Erwachsene sein, die Katzengeschichten lesen. In der Ich-Form erzählt Kater Sam. Er lebt in England, „in einem Professorenhaushalt“. Vielleicht erzählt er des­halb auf Deutsch und auf Englisch. Die Buchseiten sind immer zwei­ge­teilt, links der Text auf deutsch, rechts die eng­li­sche Version. Vokabelhilfen gibt es kei­ne, im Anhang fin­det sich nur „Sam’s CATalogue of useful English“ mit Wörtern wie „cat call“, „cat­a­combs“, „cathar­sis“ usw.

Sam erzählt also aus sei­nem Alltag und räumt mit eini­gen Mensch-Vorurteilen auf, unter ande­rem dem, dass Katzen ein unbe­schwer­tes, frei­es Leben in Saus und Braus füh­ren. So darf Kater Sam tags­über zwar raus, kommt aber nicht immer rein, wenn er will, da die Tür ver­schlos­sen ist. Nachts muss er im Haus blei­ben, und ist er am Abend nicht pünkt­lich da, wird nach ihm geschrie­en, wodurch er „zum Gespött der gan­zen Nachbarschaft“ wird, beson­ders pein­lich ist ihm das wegen der „süßen Miezen“. Manche Zimmer im Haus sind auch tabu für ihn, unter ande­rem das Musikzimmer und das Badezimmer, an den Türen kle­ben Zettel, die vor der „gefähr­li­chen Katze“ war­nen: „Wer hat Angst vor Kater Sam?“ Dann geht es noch um Sams Kindheit (Tierheim), die zwei Lieblingsmiezen (Catherine und Lizzy) und eine der Studentinnen, die oben im Haus lebt, Elsie. Sie war ver­lobt, wur­de ver­las­sen, der Ex kam zurück, sie woll­te ihn nicht und dann traf sie wie­der jemanden …

Das Buch liest sich ange­nehm, es ist ganz unauf­ge­regt, Kater Sam hat die Ruhe weg. Und sicher hat die Autorin, Runhild Arnold, eine Katze, wenn nicht, wür­de mich das sehr wun­dern. Das Buch ist also etwas für Leute, die Katzen mögen und lesen wol­len, was im Kopf und Leben einer Katze so vor sich gehen könn­te, vielleicht.

Runhild Arnold: Wer hat Angst vor Kater Sam?
Illustrationen von Günter Arnold
Mironde Verlag 2012
44 Seiten
ISBN: 978–3‑937654–67‑6
14,90 Euro

Wo kommst du her? „Suna“ von Pia Ziefle

„Suna“ ist eine Familiengeschichte, eine, die den Leser in ihren Sog zieht, ohne lan­gen Anlauf, man ist sofort drin, was an den wun­der­ba­ren ers­ten Sätzen liegt und an der Ich-Erzählerin, die ihrem klei­nen Kind ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Familie, erzählt. Es sind star­ke Figuren und ihnen ist ein biss­chen Wunder gegönnt – neu ist das nicht, aber es wür­de feh­len, wenn die Autorin dar­auf ver­zich­tet hät­te: auf Intuition, leben­di­ge Träume und die­ses „Besondere“, wie man es aus man­chen Familiensagas kennt – dass zwei für­ein­an­der bestimmt sind, zum Beispiel, dass sie sich fin­den und erken­nen und zusam­men­blei­ben oder dass einem Paar ein letz­ter rich­ti­ger Abschied ver­gönnt ist, bevor einer für immer geht. Aber „Suna“ ist kein Märchen – selbst wenn die­se Familiengeschichte erfun­den sein soll­te, scheint sie doch wahr, und sie spielt in den ver­gan­ge­nen acht­zig Jahren: So wird die Mondlandung im Fernsehen ver­folgt und man liest, was der Krieg mit Frauen, Männern und Kindern macht, mit denen, die einem in „Suna“ ans Herz wach­sen. Gut und Böse sind nicht ein­deu­tig, wie das im Märchen meist so schön ist, Pia Ziefles Figuren sind viel­schich­tig. Und ob es ein Happy End gibt, ver­ra­te ich hier nicht.

Das Buch ist nicht dick, knapp über 300 Seiten, und die Schrift ist ange­nehm zu lesen, nicht zu klein. Auf die­sen 300 Seiten geschieht viel, das wäre durch­aus Stoff für einen rich­tig dicken Wälzer gewe­sen, doch dass die Erzählerin, Luisa, ihre Geschichte in sie­ben Nächten erzählt, setzt Grenzen – das gibt dem Ganzen Struktur und bringt Ordnung in ein Familienbeziehungsgewirr, in eine Familie, deren Mitglieder aus drei Ländern stam­men, Serbien, Türkei, Deutschland.

Das Kind, wel­ches die Geschichte erzählt bekommt, ist etwa ein Jahr alt, und es schläft nicht, es kommt nicht zur Ruhe. Eine „alte Seele“ habe es, meint der Dorfarzt, der nach der Hausgeburt das Kind unter­sucht und an den sich die jun­ge Mutter spä­ter ver­zwei­felt wen­det. Denn das Kind schläft nicht nur nachts nicht, es wächst auch nur zöger­lich. Ein Kinderarzt stellt eine Diagnose in den Raum und fragt nach der Familie – spe­zi­ell nach der Generation der Großeltern –, nach den Krankheiten, den Genen. Der alte Dorfarzt fragt eben­falls nach der Familie, doch aus ande­rem Antrieb. Die Mutter des Kindes, Luisa, müs­se sich mit ihrer Familie aus­ein­an­der­set­zen, meint er: Sie, die Tochter, „ ‚kann kei­ne Wurzeln schla­gen‘, sag­te er bedäch­tig. ‚Finden Sie Ihre‘ “. Was dadurch erschwert wird, dass Lusia adop­tiert ist und ihre leib­li­chen Eltern nicht kennt

Rund ein Jahr lang recher­chiert Luisa dann im Internet, in Familienpapieren und mehr, um end­lich in besag­ten sie­ben Nächten ihrer klei­nen, schlaf­lo­sen Tochter die Geschichte der Familie zu erzäh­len. Zweiter Weltkrieg, Gastarbeiter in Deutschland, Kalter Krieg, Krieg in Jugoslawien, die Italien-Urlaube der BRD-ler – dies und mehr ist ver­wo­ben mit der Familiengeschichte, von den Großeltern bis zur Ich-Erzählerin Luisa, die im „Jetzt“ lebt. Teils hat man das Gefühl, dass das alles ewig her sein muss, und dann leben die Großeltern doch noch, die alten Tanten, auch wenn sie wirk­lich alt sind. Ganz ver­schie­de­ne Lebensentwürfe und ver­schie­de­ne Menschen sind das, deren Leben sich zu einer Geschichte ver­ei­nen. Und zum Ende hin erfährt man auch, wer Suna ist und war­um das Buch nach ihr heißt.

„Suna“ ist ein schö­nes, ein berüh­ren­des Buch, am Schluss kom­men Tränen, es geht wohl gar nicht anders. Warum Tränen? Weil es viel­leicht eine Erlösung gibt, weil die Ich-Erzählerin viel­leicht zur Ruhe kommt und damit auch ihr schlaf­lo­ses Kind. Ein gutes Buch.

Pia Ziefle: Suna
Ullstein
304 Seiten
18 Euro
ISBN: 978–3‑550–08892‑6

Das ist vorbei: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge

Als Leihgabe kam Eugen Ruges „In Zeiten des abneh­men­den Lichts“ zu mir, ich war neu­gie­rig. Das Cover ist schön, und nach­dem ich das Buch jetzt gele­sen habe, fin­de ich, dass es wun­der­bar passt. Ausschnitte von Häusern und Bäumen einer Straße sind zu sehen, auch Tauben und die Sonne, es ist, als hät­te jemand direkt ins Licht geknipst, und nun ist alles schat­tig-dun­kel. An schöns­ten und hells­ten Sonnentagen kön­nen sol­che Bilder ent­ste­hen, und auch über die Zeit, um die es im Buch geht, gibt es lus­ti­ge, lich­te Bücher. „In Zeiten des abneh­men­den Lichts“ ist nicht lus­tig, ich fin­de es auch nicht beson­ders humor­voll, und wenn das tau­send­mal als Kritikermeinung auf dem Cover steht. Es ist jedoch auch kein trau­ri­ges, depres­si­ves, dunk­les Buch, obwohl es das durch­aus hät­te sein kön­nen. Es ist die Geschichte einer Familie, vier Generationen: Charlotte und Wilhelm und Nadjeshda Iwanowna; Kurt und Irina; Alexander und Markus. Und dazu noch Gefährten, Freunde, Geliebte, doch die lau­fen nebenher.

Die Geschichte spielt in ver­schie­de­nen Jahren, 1952, 1961, 2001 usw., und wie­der­holt am 1. Oktober 1989, aus der Sicht ver­schie­de­ner Personen erzählt. An die­sem 1. Oktober wird Wilhelm neun­zig, und die Familie trifft sich mehr oder weni­ger voll­zäh­lig in sei­nem und Charlottes Haus. Immer wie­der die­ser Tag, ist das nicht lang­wei­lig? Nein, ist es nicht, und das gilt für das gan­ze Buch, das so wenig rei­ße­risch und groß­po­li­tisch ist wie die Familie, mit der es lei­der den Bach run­ter­geht: Einsamkeit, Heimatlosigkeit, Demenz, Alkolholismus, Krebs.

Das Buch beginnt 2001 mit Alexander. Er ist unheil­bar krank, sein Vater dement, sei­ne Großeltern und die Mutter sind tot. Zu sei­nem Sohn Markus hat er kaum Kontakt. Er läuft davon oder holt ein biss­chen Leben nach, viel­leicht bei­des, indem er nach Mexiko fliegt, auf den Spuren sei­ner Großmutter Charlotte. Die Toten sind in den nächs­ten Kapiteln leben­dig, und auch ein Staat, den es längst nicht mehr gibt, die DDR. Es sind Momentaufnahmen, Stücke aus einem Alltag, ein ver­hal­te­ner Ton im Grunde, nicht über­schäu­mend, weder bei Freude noch bei Verzweiflung. Vielleicht tauch­te des­halb die­ses „humor­voll“ auf, denn es ist auch ein Kunststück, bei allem Elend eine gelas­se­ne, fast hei­te­re Stimmung zu erschrei­ben. Es ist wie ein Rückblick mit ein wenig Sehnsucht und dem Wissen, dass es kein Zurück gibt, dass die Menschen und die Zeiten vor­bei sind. Es ist auch ein Buch der Söhne, der Beziehungen zwi­schen Großeltern und Enkel, Mutter und Sohn, Vater und Sohn, es gibt nur eine Mutter-Tochter-Konstellation. Und es gibt kei­ne fest­geta­cker­ten Charaktere, nichts Plakatives, das ist alles sehr offen, leben­dig und echt. Hat mir gefal­len, das Buch, aber so rich­tig greif­bar ist es für mich nicht gewor­den, viel­leicht sind es zu vie­le Personen, in deren Köpfe und Leben man hin­ein­schaut, viel­leicht ist der Autor nicht herz­lich genug zu sei­nen Figuren, die ein­fach leben und ver­ge­hen und sich nicht auf­bäu­men. Wenn ich mir das Coverbild so anschaue, dann hat es was von einem die­ser alten Fotos, in Sepia, die man zwar heu­te auch noch ent­wi­ckeln kann, die aber in eine and­re Zeit gehö­ren. Eine Zeit, die ver­gan­gen ist.