„Der Goldschmied und der Dieb“ von Tonke Dragt

„Der Brief für den König“, „Der wil­de Wald“, „Die Türme des Februar“ – die­se Bücher habe ich als Kind geliebt und sie ste­hen nach wie vor in mei­nem Bücherregal. Ihretwegen habe ich den Namen der Autorin, Tonke Dragt, nie ver­ges­sen und sie sind auch der Grund, war­um ich „Der Goldschmied und der Dieb“ lesen woll­te. Der Titel selbst hat mich nicht so sehr ange­spro­chen, auch der Klappentext nicht. Aber Tonke Dragt!

Das Buch wur­de 1961 zuerst ver­öf­fent­licht, und das merkt man auch. Ich schät­ze, wenn eine Autorin heu­te mit ähn­li­chen Geschichten zu Verlagen gin­ge, hät­te sie kei­ne Chance. Die „Geschichten von den unglei­chen Zwillingsbrüdern“ spie­len in einem mär­chen­haf­ten Gestern, lesen sich aber auch etwas behä­big, ich brauch­te eine Weile, um in die­se Welt hin­ein­zu­fin­den. Dazu pas­sen die Schwarz-Weiß-Illustrationen, die gleich­falls von Tonke Dragt sind, so rich­tig anspre­chend fin­de ich sie nicht, ein biss­chen alt­mo­disch und lang­wei­lig. Ganz anders die Coverillustration, die jedoch nicht von der Autorin, son­dern von Annemarie van Haeringen stammt. In mei­nen Augen hät­te das Buch deut­lich gewon­nen, wenn van Haeringen sämt­li­che Illustrationen gelie­fert hät­te, aber das war ver­mut­lich auch eine Geldfrage. Das Buch hat rund 380 Seiten und es hät­ten locker mehr sein kön­nen, wenn die Schrift nicht so klein gewählt wor­den wäre. Man braucht zwar kei­ne Lupe, aber rich­tig lese­freund­lich ist es nicht, zumal für ein Kinderbuch.

Und das wars jetzt mit Kritik, denn ich habe das Buch ja den­noch von der ers­ten bis zur letz­ten Seite gele­sen und woll­te es teils gar nicht aus der Hand legen. In zwölf Geschichten beglei­tet die Leserin, der Leser die Zwillingsbrüder Laurenzo und Jiacomo von ihrer Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Äußerlich kann die bei­den nie­mand aus­ein­an­der­hal­ten, doch ansons­ten sind sie recht ver­schie­den. Der eine ein biss­chen bra­ver, der ande­re aben­teu­er­lus­ti­ger, bei­de aber gute Kerle, könn­te man sagen, die sehr anein­an­der hän­gen und sich und ande­ren Menschen nichts Böses wol­len. Man kennt es ja aus Märchen und anders­wo­her, dass bei Brüderpaaren häu­fig der eine „gut“ und der ande­re „böse“ ist, es war also ange­nehm, dass das in „Der Goldschmied und der Dieb“ nicht so platt daher­kommt. Das hät­te zwar ein biss­chen Dramatik gebracht, aber span­nend wird es auch so bei den Abenteuern, die die Brüder zusam­men oder getrennt erleben.

Dabei bekom­men sie es fast nur mit Menschen zu tun, die es gut mit ihnen mei­nen, ob das nun Räuber, Herzöge oder Ritter sind, doch es wird schon mal ver­zwickt bis brenz­lig und oft genug kommt es (gewollt oder nicht) zu Verwechslungen, das muss bei Zwillingen als Hauptpersonen ja direkt sein. Diese nicht kon­flikt­freie, aber über­schau­ba­re, gerech­te und har­mo­ni­sche Geschichtenwelt dürf­te auf Kinder wie auf Erwachsene ein­la­dend wir­ken, gera­de in unse­rer Zeit …

Tonke Dragt: Der Goldschmied und der Dieb. Geschichten von den unglei­chen Zwillingsbrüdern
Aus dem Niederländischen von Liesel Linn („Verhalen van de tweelingbroers“)
Illustrationen von der Autorin, Einbandillustration von Annemarie van Haeringen
381 Seiten
ab 9 Jahren
4. Auflage 2019, Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978-3-7725-2881-1
16 Euro

„Das kleine weiße Pferd“ von Elizabeth Goudge

Die Geschichte spielt im Jahr 1842 und liest sich auch so, sie nimmt die Leserin, den Leser mit in eine ande­re Zeit. Das betrifft nicht nur die Handlung, son­dern alles Drum und Dran, auch die Art und Weise des Erzählens. Das Buch ist nicht gera­de dünn, rund 300 Seiten, die Schrift nicht zu klein, aber auch nicht so groß, wie man es oft bei Kinderbüchern hat, es gibt also ordent­lich was zu lesen. Im Mittelpunkt steht die drei­zehn­jäh­ri­ge Maria Merryweather, die kürz­lich Waise gewor­den ist und mit ihrer Gouvernante Miss Heliotrope von London nach Devonshire zieht, wo ihr ein­zi­ger Verwandter, Cousin Sir Benjamin Merryweather, in einem herr­schaft­li­chen Anwesen – Moonacre Manor – wohnt. Zu dem Haus, einem Schloss fast, gehört ein gro­ßer Park, umge­ben vom Paradiesberg, dem Dorf Silverydew und dem fins­te­ren Kiefernwald.

Maria ist erst skep­tisch, aber schnell merkt sie, dass sie mit ihrem neu­en Zuhause wirk­lich Glück hat­te. Sie hat zum ers­ten Mal in ihrem Leben ein Zimmer ganz für sich, von Mensch bis Tier sind alle nett zu ihr, sie bekommt ein eige­nes Pony, darf in Begleitung des rie­si­gen Hundes Wrolf allein aus­rei­ten und erlebt Abenteuer … Denn Menschen und Tiere in und um Moonacre Manor hüten eini­ge Geheimnisse, die Maria Schritt für Schritt auf­deckt, aber nicht unge­stüm, son­dern mit einer gewis­sen Contenance, wie es sich für eine wohl­erzo­ge­ne jun­ge Dame ihrer Zeit gehört.

Wird das lang­wei­lig? Nein, wird es nicht. Auch wenn das Buch sehr idyl­lisch und mär­chen­haft ist, mit einer gro­ßen Portion Religiosität, zieht es die Leserin, den Leser in sei­nen Bann. Denn die Autorin kann ein­fach gut fabu­lie­ren. Sie schil­dert schwär­me­risch das Essen, das auf­ge­ta­felt wird, beschreibt mit genau­em Blick das Äußere der Personen, gibt klei­nen Dingen und Begegnungen mit Mensch und Tier Raum, sorgt mit den bösen „Schwarzen Männern“ (schwarz geklei­det und schwar­ze Bärte), die im Kiefernwald in einem Kastell hau­sen, für Spannung und webt alles per­fekt zusammen.

Eine wich­ti­ge Rolle spielt logi­scher­wei­se das klei­ne wei­ße Pferd, der Titelgeber des Buches. Aber es sei schon mal ver­ra­ten, dass das Buch kei­ne Pferdegeschichte ist, genau­so wenig wie „Harry Potter“ eine ist. Tja, wie kom­me ich jetzt auf Harry Potter? Hinten auf dem Einband steht ein Zitat von Joanne K. Rowling: „Mein Lieblingsbuch war Das klei­ne wei­ße Pferd von Elizabeth Goudge.“ Und wenn man das weiß, mag einem die ein oder ande­re Interpretation zum klei­nen wei­ßen Pferd ein­fal­len, sozu­sa­gen mit dem Harry-Potter-Blick.

Das Cover mutet ein biss­chen alt­mo­disch an, was zur Geschichte passt, die­se Illustration sowie sämt­li­che im Buch stam­men aus der Originalausgabe, sie sind von C. Walter Hodges. Um das Cover etwas auf­zu­pep­pen, hat der Verlag Glitzer auf­tra­gen las­sen – auf das Pferd, den Mond, den Titel … Das ist okay und bleibt vor allem am Buch (an den Händen braucht das ja wirk­lich nie­mand). Ein klei­nes, prak­ti­sches Extra ist das grü­ne Lesebändchen.

Nachdem ich das Buch fer­tig gele­sen hat­te, goo­gel­te ich noch die Autorin. Elizabeth Goudge wur­de 1900 gebo­ren, das Buch erschien 1946. Mit dem Wissen um die Zeit der Entstehung kann man viel­leicht nach­voll­zie­hen, war­um die Autorin ihre Geschichte im Jahr 1842 spie­len lässt und war­um sie so extrem idyl­lisch und ver­söhn­lich ist. Der Verlag emp­fiehlt das Buch für Kinder ab neun Jahren. Für sie dürf­te das recht unge­wohn­te Lektüre sein, aber ich schät­ze, wenn sie sich dar­auf ein­las­sen, wer­den sie genau­so gefes­selt lesen wie ich als Erwachsene …

Elizabeth Goudge: Das klei­ne wei­ße Pferd
Aus dem Englischen von Sylvia Brecht-Pukallus
Mit Illustrationen von C. Walter Hodges
312 Seiten
ab 9 Jahren
2018 Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978-3-7725-2723-4
16 Euro

„Bo sieht Gespenster“ von Harmen van Straaten

Bo zieht mit sei­nem Vater in ein Holzhaus am Waldrand – klingt idyl­lisch, aber: Das Haus ist alt, direkt neben­an befin­det sich ein Friedhof und in dem Haus spukt es. Dass es spukt, fällt aller­dings nur Bo auf, er sieht Wörter auf dem beschla­ge­nen Spiegel, Schornsteinrauch in Form eines Totenkopfs und hört lau­te Geräusche auf dem Dachboden. Für ihn ist klar: Das sind Gespenster!

Als es fröh­lich wei­ter­geht mit abson­der­li­chen Ereignissen, bekommt auch Bos Vater etwas mit. Für ihn ist jedoch stets klar: Das war Bo! Bo nimmt das locker, wahr­schein­lich, weil er gar nicht dazu kommt, sich über sei­nen Vater auf­zu­re­gen, denn dau­ernd pas­siert etwas, das Haus scheint selt­sa­me Gestalten nur so anzu­zie­hen. Und Bo freun­det sich mit Adrian an, der alt­mo­di­sche Klamotten trägt, sich auf dem Friedhof wie zu Hause fühlt und behaup­tet, er sei ein Gespenst …

Auf knapp hun­dert Seiten erzählt Harmen van Straaten in Wort und Bild eine Geschichte mit Gespenstern und Scheingespenstern über ein altes Haus, das es in sich hat, und über zwei Freunde, die eine kniff­li­ge Angelegenheit zusam­men zu einem guten Ende brin­gen. Witzig, über­ra­schend und nicht zu grus­lig, für alle ab acht Jahren.

Harmen van Straaten: Bo sieht Gespenster
Mit Illustrationen des Autors
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
104 Seiten
ab 8 Jahren
Verlag Freies Geistesleben 2018
ISBN 978-3-7725-2785-2
14 Euro