Danke für Konrad und Gretchen – ein Hoch auf Christine Nöstlinger!

Am Donnerstag bekommt Christine Nöstlinger eine Corine, den Literaturpreis des Landesverbandes Bayern im Börsenverein des deut­schen Buchhandels – den Ehrenpreis für das Lebenswerk, um genau zu sein. Und den hat sie ver­dient. Es ist schwer, als Kind an Nöstlingers Büchern vor­bei­zu­kom­men, denn sie sind über­all, und das ist gut so. Nehmen wir zum Beispiel den Franz, von dem es Weihnachts‑, Schul‑, Liebes- und etli­che ande­re Geschichten gibt, den Gurkenkönig oder Mini.

Meine Geschichte mit Christine Nöstlinger begann mit Konrad. Frau Bartolotti, die ziem­lich chao­tisch und so gar nicht durch­schnitt­lich ist, hat einen Bestelltick und bekommt – irr­tüm­lich! – Konrad, das Kind aus der Konservenbüchse gelie­fert. Er ist ein wah­rer Musterknabe, der immer brav und lieb sein muss, denn so wur­de er pro­gram­miert. Der Traum man­cher Eltern ist ein Albtraum für Frau Bartolotti, und so setzt sie alles dar­an, aus Konrad einen „nor­ma­len“ Jungen zu machen, der nicht wie ein Roboter funk­tio­niert, son­dern sich auch mal dre­ckig macht und nicht das tut, was ihm befoh­len wird.

Eine ver­blüf­fen­de Verkehrte-Welt-Geschichte, die trotz­dem ganz rea­lis­tisch rüber­kommt und die mir Appetit gemacht hat auf Bücher mit einem Schuss Fantastik, mit Witz und Tempo. Kein Wunder, dass ich auch spä­ter öfter zugriff, wenn ich Bücher von Christine Nöstlinger sah. So kam ich an Gretchen Sackmeier, die mit Querelen und Veränderungen in ihrer Familie klar­kom­men muss und dar­über vom Pummel zum dün­ne­ren, hüb­schen Teenager wird, der mit Jungsgeschichten anfängt. Wenn Gretchen nicht so umwer­fend sym­pa­thisch wäre, hät­te ich sie glü­hend benei­den, ja, has­sen müs­sen. Stattdessen wünsch­te ich mir eine Freundin wie sie …

Und das ist ja längst nicht alles, wie gesagt, Christine Nöstlinger hat unheim­lich vie­le und ver­schie­de­ne Bücher für Kinder und Jugendliche geschrie­ben. Wie schön, dass sie dafür (neben den vie­len Preisen, die sie schon hat) auch die Corine bekommt!

Ein Maulwurf im Winter: „Was glitzert da im Schnee?“ von Vanessa Cabban und Jonathan Emmett

Vielleicht hat mit Krtek, dem klei­nen Maulwurf, alles ange­fan­gen? Zdeněk Miler, der Zeichner aus Prag, hat 1957 den ers­ten Maulwurf-Zeichentrickfilm her­aus­ge­bracht. Der klei­ne Kerl war ein Glücksgriff, er wur­de in zahl­rei­chen Ländern ein gro­ßer Erfolg. Seitdem sind ihm vie­le Maulwurfhelden gefolgt, und ein Maulwurfbuch, das in die­sem Jahr erschie­nen ist, habe ich mir genau­er angeschaut.

„Was glit­zert da im Schnee?“ heißt es, auf dem Cover ist ein zucker­sü­ßer Maulwurf zu sehen – mit weni­gen Strichen gezeich­net (neh­me ich an), mit Schaufelpfötchen, Stummelschwänzchen und etwas Schnee auf dem Kopf. Um ihn her­um glit­zert es tat­säch­lich, wie die Buchleute die­se Glitzerschneebällchen gemacht haben, weiß ich nicht. Es ist jeden­falls kein bil­li­ger Glitter, der sich löst und den man dann an den Händen und der Kleidung hat, und das fin­de ich schon mal gut.

An einem Tag im Winter schaut der Maulwurf aus sei­nem Maulwurfshügel, und drau­ßen ist alles weiß. Er sieht zum ers­ten Mal Schnee, es ist also ein klei­ner, neu­gie­ri­ger Maulwurf, der sich gleich auf­macht, um sich alles anzu­schau­en, und dabei Kreiselspuren im Schnee hin­ter­lässt. Auf einem stei­len Hang rutscht er aus und saust den Berg hin­ab, direkt gegen einen Baum. „Uff!“, sagt er, aber er hat sich nicht weh­ge­tan und ent­deckt gleich etwas Großartiges: Direkt neben sich sieht er einen glit­zern­den Diamanten. Er will ihn mit nach Hause neh­men, doch auf dem Heimweg ver­än­dert sich der Diamant, bis er schließ­lich ganz ver­schwin­det. Igel, Eichhörnchen und Hase kom­men just in dem Moment vor­bei und tref­fen auf einen trau­ri­gen Maulwurf, der ihnen alles erzählt und sie zu dem Baum führt, bei dem er den Diamanten gefun­den hat. Der Hase zeigt nach oben, und der gan­ze Baum ist vol­ler Diamanten …

Ach, es ist ein zau­ber­haf­tes Buch. Die Bilder sind ruhig, herr­lich unauf­ge­regt, mit gedämpf­ten Farben, der Schnee domi­niert die Landschaft, die weni­gen Bäume sind kahl. Die Tiere sind mit sanf­ten Farben gezeich­net, rund sehen sie aus, schließ­lich haben sie ihr Winterfell. Mimik und Gestik des klei­nen Maulwurfs, die Spuren im Schnee, das wech­seln­de Winterlicht von den wär­men­den Morgensonnenstrahlen über das kal­te, blaue Licht am spä­ten Nachmitttag bis zum fun­keln­den Einbruch des Abends hat Vanessa Cabban ganz herr­lich gezeichnet.

Und ja, Maulwürfe hal­ten kei­nen Winterschlaf, sie zie­hen sich ledig­lich tie­fer in die Erde zurück. Nur der Igel müss­te eigent­lich schla­fen, aber war­um soll­te er nicht auch mal im Winter aufwachen?

Ein wun­der­ba­res Buch, das den Zauber des Winters ein­fängt und rich­tig Sehnsucht macht nach Schnee und die­ser fas­zi­nie­ren­den Landschaft in weiß. Aber lan­ge müs­sen wir dar­auf wahr­schein­lich sowie­so nicht mehr warten …

Was glit­zert da im Schnee?
Verfasser: Jonathan Emmett
Illustratorin: Vanessa Cabban
Annette Betz Verlag
ab 4 Jahren
32 Seiten
12,95 Euro
ISBN: 978–3‑219–11494‑2

Geschichte einer Magersucht: „Hunger nach weniger“ von Jessica Antonis

In der aktu­el­len my.self-Ausgabe ist mir die­se Woche eine Parfumwerbung auf­ge­fal­len. Ein Mann, eine Frau. Die Frau aller­dings hat­te kei­nen Körper, jeden­falls nicht das, was ich als einen sol­chen bezeich­nen wür­de. Es war mehr ein Schatten. Ja, es ist nicht neu, dass in der Werbung Frauen ihre Konturen ver­lie­ren und kräf­tig gepho­to­shop­pt wer­den. Aber das war wirk­lich krank. Und ich hab an das Buch gedacht, das ich vor einer Weile gele­sen habe: „Hunger nach weni­ger. Roman einer Magersucht“. Autorin des Buches ist Jessica Antonis, die selbst mager­süch­tig war (oder bleibt man es immer, wenn man es mal war, auch wenn man sie über­win­det?): „Diese Geschichte beruht auf eige­nen Erfahrungen, aber die Personen sind frei erfun­den“, steht auf Seite sechs.

„Hunger nach weni­ger“ wur­de von Verena Kiefer aus dem Niederländischen über­setzt und ist 2001 erst­ma­lig auf Deutsch erschie­nen. Seitdem sind etli­che Jahre ins Land gezo­gen, und manch­mal merkt man das dem Buch auch an. Es stört aber nicht, denn die Geschichte kreist ein­zig und allein um Anne: Was denkt Anne, was macht Anne. Und die 16-jäh­ri­ge Anne hat nur ein Thema: ihren Körper, den sie zu dick fin­det, und den sie dün­ner bekom­men will.

Das Buch ist in Monate unter­glie­dert, es beginnt im September. Anne will einen Rock anzie­hen, steht ewig vor dem Spiegel und gefällt sich in kei­nem. Schließlich zieht sie, wie immer, ihren Schlabberpulli und eine Jeans an. Sie ist nei­disch auf ihre jün­ge­re Schwester Sofie, die ganz läs­sig ist und sich in ihrem Körper wohl­fühlt. Anne hasst es, den Schulhof zu über­que­ren, sie stellt sich vor, alle wür­den sie anstar­ren und sie häss­lich und dick fin­den. Sie wünscht sich dün­ne Beine, einen fla­chen Hintern, eine schma­le Taille und Oberschenkel, die beim Laufen nicht gegen­ein­an­der­scheu­ern. Ihre bes­te Freundin Amaryllis ist so, wie Anne es sich erträumt: wun­der­schön, dünn. Anne will von ihr wis­sen, ob sie dick sei. Die Antwort der Freundin: „Du bist wirk­lich nicht dick, nur mol­lig“. Das ist der Auslöser. Anne hat zwar schon öfter Diät gehal­ten und ver­sucht, abzu­neh­men, doch jetzt will sie es durchziehen.

Ab sofort dreht sich alles nur noch ums Essen. Sie will nicht essen – und denkt des­we­gen stän­dig dar­an. Sie kann sich schlech­ter kon­zen­trie­ren, das Essen wird zum Feind, sogar im Traum geht es ums Essen, es sind Albträume. Im September wiegt Anne bei 1,63 m 60 Kilo. Ihr Ziel sind 47 Kilo. Im Februar wiegt sie weni­ger als 46 Kilo, und es ist immer noch nicht genug. Es ist wie ein Sog, der Anne mit sich reißt und kein Anhalten mehr zulässt, sie von ihrer Familie und ihren Freunden, von allen, ent­fernt. Alle Kraft und Energie scheint sie in das Dünnerwerden zu ste­cken. Sie kann sich nicht gegen ihre Mutter und gegen ihre jün­ge­re Schwester durch­set­zen, doch in Bezug auf das Abnehmen lässt sie sich von kei­nem etwas sagen. Ihre Eltern mer­ken, dass Anne immer weni­ger wird und bald viel zu wenig wiegt. Anne ver­spricht ihnen, regel­mä­ßig zu essen. Damit sie nicht zunimmt, greift sie heim­lich zu Abführmitteln.

Die ekli­gen, bru­ta­len Seiten der Magersucht blei­ben nicht aus­ge­spart. Als Anne ein­mal 15 Tabletten nimmt, ver­liert sie die Kontrolle über ihren Schließmuskel, Magenschmerzen sind nicht die Ausnahme, son­dern die Regel. Die Abführtabletten sind teu­er, sodass sie beginnt, ihre Familie zu besteh­len. Als sie kein Geld mehr hat, geht sie dazu über, ihr Essen zu erbre­chen, außer­dem treibt sie manisch Sport. Sie ver­letzt sich selbst mit einem Rasiermesser und ent­wi­ckelt zwang­haf­te Verhaltensweisen. So beob­ach­tet sie, wie viel ande­re essen, sie muss immer die sein, die am wenigs­ten isst. Als ihre Freundin Amaryllis beschließt, dass sie auch abneh­men müs­se, ent­wi­ckelt sich zwi­schen den bei­den Mädchen eine Art Konkurrenz. Vertrauen kann Anne nie­man­dem mehr, nur ihrem Tagebuch. Als ihre Eltern es fin­den und dar­in lesen, wird Anne in eine Klinik eingewiesen.

Dort wird sie nicht auto­ma­tisch gesund, sie muss sich wie­der ent­schei­den. Warum sie die Entscheidung trifft, die sie trifft, war für mich nicht so rich­tig nach­voll­zieh­bar. Vielleicht ver­sa­gen der Autorin hier die Worte, oder sie kön­nen nur ein schlech­ter Ersatz sein? Auch ande­re Fragen blei­ben offen, da wir nur Annes Sicht der Dinge erfah­ren. So kommt ihre Mutter nicht beson­ders gut weg, da sie ihre fast erwach­se­ne Tochter teils ent­mün­digt, ihr vor­schreibt, was sie tun soll: die Oma besu­chen, eine bestimm­te Bluse kau­fen usw. Und ist Amaryllis wirk­lich eine gute, loya­le Freundin – oder eifer­süch­tig auf Anne, die nun so dünn ist und für die Alex etwas übrig­zu­ha­ben scheint? Dieses Ungefilterte gibt einem zu den­ken, zu grü­beln. Zumal Anne am Ende, als sie gesund wer­den will, hofft, dass ihre Familie und Freunde „ihr irgend­wann das Leid, das sie ihnen zuge­fügt hat­te, wür­den ver­ge­ben kön­nen.“ Das liest sich selt­sam, da wir in die­sem Buch aus­schließ­lich von dem Leid gele­sen haben, das Anne erlebt. Es ist schlimm. Und es ist gut, dass das so unmit­tel­bar gezeigt wird, viel­leicht kann es Freunden und Familienmitgliedern von Magersüchtigen hel­fen, deren Denkweise zu ver­ste­hen und die Tricks zu erken­nen. Vielleicht kann es auch Jugendliche errei­chen, die sich die Bilder im TV, in den Zeitschriften, in der Werbung zu Herzen neh­men und so dünn wer­den wol­len wie man­che Models. Sich dünn zu hun­gern kann lebens­be­droh­lich sein, und an Magersucht ist nichts Romantisches, sie ist ein Elend. Das ist nach dem Lesen die­ses Buches klar.

Jessica Antonis: Hunger nach weniger
ab 14 Jahren, 200 Seiten
9,95 Euro
Ueberreuter
ISBN: 978–3‑8000–5651‑4