Das Mädchen ist dreizehn und schreibt Briefe an einen Anton, den es nicht gibt, Anton Gundermann. Gundermann wie das Heilkraut, das das Leben wieder in den Fluss bringt und den Glauben an das Leben stärkt, das früher für die Menschen eine Art Kummerkasten war, so heißt es am Anfang des Buchs: „Gundermann, du lieber Mann, hier trag ich dir mein Leiden an.“ Und das Mädchen braucht so etwas dringend, denn vor zwei Jahren ist ihr Vater gestorben, und seitdem ist die Familie wie erstarrt in ihrer Trauer.
Nun ist Anton Gundermann, sind die Briefe an ihn ein Ventil für das Mädchen, sie lässt alles raus. Sie schreibt über ihren Kummer und ihre Angst, über den „schwarzen Reiter“, die Depression, über die anderen in der Schule, die sie runtermachen und „Flasche“ nennen, darüber, dass die Familie nach dem Tod des Vaters von Hartz 4 lebt und (zu) wenig Geld hat. Aber auch von den guten Dingen: Menschen, Sachen und Erinnerungen. Erinnerungen an ihren Papa, die beides sind, traurig und schön.
Weit oben auf ihrer Liste der guten Dinge stehen Bücher, und Bücher bekommt sie in der Kinderbibliothek, wo Herr Heilig einmal die Woche vorliest. Die anderen Kinder, die zuhören, sind viel jünger, aber das Mädchen würde um nichts auf der Welt darauf verzichten. Als sie mitbekommt, dass die Lesungen eingestellt werden sollen, weil dafür kein Geld mehr da ist, schluckt sie das nicht einfach, sondern macht etwas. Sie sammelt Flaschen. Mit dem Pfand will sie Herrn Heilig für weitere Lesungen bezahlen. Sie muss Ängste überwinden, um damit anzufangen, aber dieses Aktivwerden ist ein großer Schritt zurück in ein Leben, das im Fluss ist. Zumal sie beim Flaschensammeln ganz verschiedenen Menschen begegnet, die auf sie zu- und eingehen und sie teils ein Stück weit begleiten.
Bei Rezensionen ist es ja immer schwierig, nicht zu viel zu erzählen, aber genug, damit andere einen Eindruck vom Buch bekommen. Hier kann ich schon mal sagen, dass das Buch viel, viel mehr ist als das, was ich vom Inhalt verraten habe. Es ist ein kleines Buch, wenig größer als eine Hand, und die Schrift könnte ruhig auch ein wenig größer sein, aber es ist ein Buchschatz. Ein Buch über die Trauer und was der Verlust eines Menschen, den man sehr geliebt hat, mit einer Person machen kann. Aber auch ein Buch übers Leben. Über das Leben mit dem Menschen, den man verloren hat, und über das Leben, das auch ohne diesen Menschen weitergeht und trotzdem wunderbar sein kann.
Die Autorin und Illustratorin Soheyla M. Sadr hat bisher vor allem Bilderbücher veröffentlicht, „Flasche“ ist ihr erster Roman. Das Buch hat nur knapp 130 Seiten, aber es steckt so viel drin, da sieht man erst mal wieder, wie komplex, wortverliebt und reich ein Buch, das sich vor allem an Kinder wendet, sein kann. Eben weil dieses Buch über Trauer und Weiterleben zugleich naiv und weise erzählt, ist es auch für Erwachsene sehr lesenwert, wie eigentlich alle wirklich guten Kinder- und Jugendbücher. Und das ist doch ein guter (vor-)letzter Satz, oder?
Soheyla M. Sadr: Flasche
Illustrationen und Coverbild von der Autorin
126 Seiten
ab 8 Jahren
2018 kilian andersen verlag
ISBN: 978–3‑981‑3623‑8–1
9,95 Euro