Vierzehn Porträts, ein Buch: „Hannover persönlich“ von Birte Vogel

Gefreut hat­te ich mich vor allem auf das Porträt von Ingo Siegner, der Kinderbuchautor und ‑illus­tra­tor ist. Eine sei­ner Figuren ist der klei­ne Drache Kokosnuss, über den es nun schon mehr als ein Dutzend Bücher gibt. Kinder lie­ben den Feuerdrachen, und Erwachsene kön­nen die­se Geschichten sehr gut ertra­gen, sogar auf lan­gen Autofahrten als Hörbuch, und das will was heißen.

Ingo Siegners Porträt ist nicht das ers­te in „Hannover per­sön­lich“, und ich habe auch nicht ins Inhaltsverzeichnis geschaut und dann vor­ge­blät­tert – son­dern ein Porträt nach dem ande­ren gele­sen, in der Reihenfolge, die Birte Vogel aus­ge­wählt hat. Natürlich kann man die vier­zehn Porträts lesen, wie man lus­tig ist – man könn­te sich die Fotos auf dem Cover anschau­en, eins aus­wäh­len und es dann im Buch suchen. Oder man fängt hin­ten an, in der Mitte, wie es einem gefällt. Das geht, denn die Porträts sind jedes für sich abge­schlos­sen, die Porträtierten haben mit­ein­an­der nichts zu tun. Dennoch haben sie ein-zwei Dinge gemein­sam: Zum einen leben sie in oder bei Hannover bzw. haben dort gelebt, zum andern sind ihre Geschichten äußerst lesenswert.

Sechs Frauen und acht Männer hat Birte Vogel inter­viewt und dann in Worte gefasst, wie sie die­se Persönlichkeiten erlebt hat und was sie ihr erzählt haben. Die Porträts erschei­nen zum Großteil sehr per­sön­lich, und das, obwohl Familiäres und wirk­lich Privates zumeist auch pri­vat und unge­sagt bleibt. So spie­len die Männer bzw. Frauen der Interviewten kei­ne Rolle, auch Kinder, so es wel­che gibt, fin­den höchs­tens am Rande Erwähnung. Es geht wirk­lich jeweils um die­se eine Person, auf die sich Birte Vogel kon­zen­triert, bei der sie nach­fragt und ‑forscht, wel­che Geschichte sie hat, wie sie so gewor­den ist, wie wir als Leser sie jetzt erle­ben dür­fen. Eine zen­tra­le Rolle spielt dabei der Beruf, und hier ist die Spannweite wirk­lich breit: eine Hutmacherin, ein Radrennfahrer, ein Clown, eine Taubblinden-Pädagogin …

Die Taubblinden-Pädagogin heißt Inez Aschenbrenner, und Birte Vogel hat sie an einem Sommertag getrof­fen, im Taubblindenzentrum (TBZ), wo sie arbei­tet. Birte Vogel darf bei einer Unterrichtsstunde zuschau­en und danach Fragen stel­len, ver­mut­lich sind es sehr, sehr vie­le gewe­sen, denn das Porträt ist so rund und detail­reich, dass es sich wun­der­bar und leicht liest, aber man weiß ja, wie viel Arbeit genau die­ses Leichte, Kompakte macht, wenn man es zu Papier brin­gen will bzw. muss. Und Birte Vogel bet­tet die per­sön­li­chen Geschichten in einen grö­ße­ren Kontext ein – in Inez Aschenbrenners Porträt geht sie auf die Taubblindheit ein: Was ist das für eine Behinderung, wer war die bekann­tes­te Taubblinde (die Amerikanerin Helen Keller), wel­che Ursachen kann die Taubblindheit haben, wie erle­ben Taubblinde wahr­schein­lich sich und die Welt, wie kön­nen sie kommunizieren?

Wie müh­sam es für Taubblinde sein kann, Kontakt zu ihrer Umgebung auf­zu­neh­men, und wie schwer es für ihre Familie, Lehrer und Freunde sein kann, sie zu ver­ste­hen, begreift man, wenn Birte Vogel eine Unterrichtsstunde schil­dert. Das ist ganz groß, was Inez Aschenbrenner da als Pädagogin leis­tet, den­ke ich, jeden Tag aufs Neue! Und am Ende des Porträts bin ich furcht­bar berührt und gerührt. Und so geht es mir mit eini­gen der Porträts, nicht mit allen, ver­mut­lich wird das bei jedem Leser anders sein, wird die eine Geschichte den mehr und die weni­ger anspre­chen. Aber alle sind fes­selnd und zugleich sehr informativ.

Die meis­ten Namen wer­de ich mir wohl nicht mer­ken, Namen sind nicht so wich­tig für mich. Aber die Geschichten, die Persönlichkeit der Porträtierten wer­de ich kaum ver­ges­sen, und mit­neh­men wer­de ich außer­dem Ermunterung, Antrieb, ein Stück Zuversicht. Man liest hier, dass man etwas bewe­gen kann, wenn man Energie nicht nur in sich, son­dern auch in ande­re steckt, in die Gemeinschaft, wenn man es so will. So gibt zum Beispiel Ingo Siegner schon viel, indem er gute Kinderbücher schreibt, die Kinder zum Selberlesen brin­gen. Doch außer­dem ist er Schirmherr von Lesestart Hannover e.V., einem Verein, der sich für die Sprach- und Leseförderung von Kleinkindern ein­setzt. Das wuss­te ich vor „Hannover per­sön­lich“ noch nicht. So wie vie­les ande­re. Und ein Buch ist doch erst rich­tig span­nend, wenn man etwas Neues erfährt!

So viel zum Inhalt des Buches, noch kurz ein paar Sätze zu sei­nem Äußeren: Es ist ein kom­pak­tes Hardcover mit Schutzumschlag und, was ich immer groß­ar­tig fin­de, mit einem Lesebändchen. Auf dem Cover sind vier­zehn Porträtbilder zu sehen, die dann im Buch beim jewei­li­gen Porträt wie­der auf­tau­chen, ganz­sei­tig. Die Fotos stam­men von Dieter Sieg und sie sind, wie die Wortporträts, per­sön­lich. Unmittelbar, lebens­nah. Passt einfach.

Kein Wunder, dass ich die­ses Buch emp­feh­le – und um mit „Hannover per­sön­lich“ etwas anfan­gen zu kön­nen, muss man nicht irgend­wann in der Stadt gewe­sen sein oder dort gelebt haben. Denn es geht nicht um die Stadt, son­dern um die Menschen – die inter­es­san­te, packen­de Geschichten zu erzäh­len haben. Beziehungsweise bei denen Birte Vogel es gelun­gen ist, Geschichten zu erfas­sen und auf­zu­schrei­ben, die mehr sind als nur eine Aufzählung von Fakten und Informationen, deut­lich mehr. Man wünscht sich eine Fortsetzung, viel­leicht von einer ande­ren Stadt, und ganz abge­neigt ist die Autorin offen­bar nicht. So ein Glück!

 

Hannover per­sön­lich
Porträts von Birte Vogel (Texte)
Dieter Sieg (Fotos)
Gebunden mit Schutzumschlag
280 Seiten
19,90 Euro
ISBN 978–3‑9814559–0‑8
Seewind Verlag

Alle Porträtierten auf einen Blick: Werner Buss, Inez Aschenbrenner, Peter Shub, Margot Käßmann, Grischa Niermann, Brita M. Watkinson, Hans-Peter Lehmann, Ramona Richter, Ingo Siegner, Gábor Lengyel, Annika Dickel, Hans-Jürgen Gurtowski, Astrid Ries, Burkhard Inhülsen.

Ich bin neu­gie­rig und habe Birte Vogel vie­le Fragen gestellt – zur Entstehung des Buches, zu den Interviews usw. Das alles ist hier nach­zu­le­sen: „Wie ein Porträtbuch ent­steht: Birte Vogel über ‚Hannover per­sön­lich‘ “.

Kommen Sie auf die Couch! „Psychoanalyse tut gut“ von Dunja Voos

Dieses klei­ne Buch hat es in sich: Es ist eine Einführung in die Psychoanalyse, ein Augenöffner, Neugierigmacher und, wie der Untertitel schon sagt, ein „Ratgeber für Hilfesuchende“. Es kam für mich wie geru­fen, da ich zum Thema Psychoanalyse über das übli­che Halbwissen ver­fü­ge, biss­chen Freud hier, etwas Über-Ich dort, Vorurteile hin, Vermutungen her. Das woll­te ich ändern. Ende Dezember hat­te ich Charlotte Roches „Schoßgebete“ gele­sen, also vor „Psychoanalyse tut gut“. Das pass­te schon mal per­fekt, merk­te ich, denn Roches Heldin geht zur Psychoanalyse und vie­les, was Roche schil­dert, tauch­te in Dunja Voos‘ Buch wie­der auf, es gab so man­che Aha-Momente.

Man könn­te sagen, Charlotte Roche bricht mit ihrem zwei­ten Roman die Lanze für die Psychoanalyse, und Dunja Voos tut dies eben­falls, natür­lich auf eine gänz­lich ande­re Art. Ganz prak­tisch und mit Worten, die für Laien nicht nur ver­ständ­lich sind, son­dern sich auch gut lesen las­sen, zeigt sie die Psychoanalyse als eine Therapieform, die nicht in unse­re schnel­le Zeit zu pas­sen scheint, für vie­le aber doch genau die rich­ti­ge sein kann.

Das Buch hat rund 170 Seiten und ist in zwei Teile unter­glie­dert: „Die psy­cho­ana­ly­ti­sche Therapie“ und „Häufige Diagnosen“. Dafür gibt es schon mal einen Pluspunkt: kein theo­re­ti­scher Ballast, kein Versuch, erst die Geschichte der Psychoanalyse run­ter­zu­be­ten und die Tradition, die Moderne, kurz, alle Theorie zu erklä­ren. Sondern: rein in die Praxis, zu den Fragen, die Herr Müller mit der Depression und Frau Kunz mit der Zwangsstörung stel­len wür­den – was ist Psychoanalyse, für wen kommt sie infra­ge, was pas­siert dabei usw.

Zuerst ein­mal bringt Dunja Voos Klarheit in die ver­wir­ren­de Welt der Psychoberufe: Der Neurologe behan­delt krank­haf­te Veränderungen der Nerven und des Gehirns, er ist die rich­ti­ge Anlaufstelle zum Beispiel für Schlaganfallpatienten. Der Psychiater sieht als Ursache see­li­schen Leids pri­mär Stoffwechselstörungen und setzt früh Medikamente ein, das kann bei­spiels­wei­se für Patienten mit Halluzinationen oder schwe­ren Alkoholproblemen pas­sen. Die Verhaltenstherapie ist zumeist zeit­lich begrenzt, das heißt, sie läuft über einen kür­ze­ren Zeitraum, der Therapeut küm­mert sich hier­bei um Symptome – wäh­rend der Psychoanalytiker mit­tels Gesprächen den Ursachen auf den Grund gehen möch­te, was län­ger dau­ert, vie­le Wochen, manch­mal Jahre.

Und Zeit hat der Analytiker für den Patienten – immer zu einem fes­ten Termin, genau 50 Minuten lang, ohne Störung durch das Telefon, und in der Regel sind kei­ne ande­ren Patienten in der Praxis. Im ers­ten Teil des Buches erzählt Dunja Voos also, wie eine Therpie abläuft (ers­te Stunde, die berühmt-berüch­tig­te Couch, Beziehung zwi­schen Patient und Therapeut usw.), und geht auf Ängste, Vorurteile und Probleme im Zusammenhang mit der Psychoanalyse ein.

Um ein paar Hinweise her­aus­zu­pi­cken: Man kann sich einen Psychoanalytiker emp­feh­len las­sen, soll­te aber mög­lichst nicht den­sel­ben wie Freunde und Verwandte kon­sul­tie­ren, denn dar­un­ter wird ent­we­der die Freundschaft oder die Therapie lei­den. Der Psychoanalytiker macht in sei­ner Ausbildung selbst als Patient eine Psychoanalyse durch, die soge­nann­te Lehranalyse. Er weiß also, wie es ist, auf der Couch zu lie­gen (oder auf dem Stuhl zu sit­zen). Die Beziehung zwi­schen dem Therapeuten und dem Patienten bezeich­net Dunja Voos als eine Abhängigkeit, ver­gleich­bar der des Kindes von der Mutter. Sie basiert auf Vertrauen. Doch die Abhängigkeit sei der Weg zur Unabhängigkeit, zu einem bes­se­ren Leben als vor­her, in dem der Therapeut dann kei­ne Rolle mehr spielt, spie­len muss. Um Missbrauch vor­zu­beu­gen, gibt es die soge­nann­te „Abstinenzregel“: außer dem Händeschütteln zur Begrüßung und zum Abschied darf es kei­ne Berührungen geben, ent­spre­chend auch kei­ne Beziehung außer­halb der Praxis des Analytikers.

Auf die Frage: Wie sag ich mei­nem Chef, mei­nem Partner, wem auch immer, dass ich eine Psychoanalyse mache, geht die Autorin eben­falls ein. Aus gutem Grund:

In unse­rer stren­gen Gesellschaft, wo man jung, strah­lend und funk­tio­nie­rend sein muss, ist eine psy­chi­sche Störung immer noch ein Makel — es sei denn, sie ist durch den all­ge­mein aner­kann­ten Stress ent­stan­den. Menschen, die am Burnout-Syndrom lei­den, sind doch im Allgemeinen akzep­tiert. Schließlich sind sie ‚aus­ge­brannt‘, weil sie sich über alle Maßen für ihren Beruf ein­ge­setzt haben. (Seite 82)

Man liest zwar über­all, dass immer mehr Menschen psy­chi­sche Probleme haben, und das bekom­men die meis­ten auch in ihrem eige­nen Umfeld oder bei sich selbst mit. Aber des­we­gen zum Arzt gehen? Eine Psychoanalyse in Betracht zie­hen? Ich schät­ze, das geschieht eher sel­ten. Welcher Hausarzt hat heu­te noch Zeit, sich um die Psyche sei­ner Patienten zu küm­mern, wenn es  nicht gera­de um Depression, Burnout, ADHS oder etwas Ähnliches geht, das „greif­bar“ und nicht zu igno­rie­ren ist? Dann wird eine Diagnose gestellt und behan­delt, oft nur mit Medikamenten. Doch Diagnosen sind nicht das A und O und das Ende vom Lied, so Dunja Voos:

Wenn man sich an den Diagnosenamen fest­hält, kommt man auf ein Karussell, das schwin­del­erre­gend ist. Experten strei­ten sich unter­ein­an­der wie die Kesselflicker um den rich­ti­gen Namen und sehen nicht, dass da ein Mensch sitzt, der nur eines möch­te: dass ihm end­lich gehol­fen wird. Viele Diagnosen sind ohne Zweifel Modeerscheinungen. (Seite 39)

Als Beispiel hier­für nennt die Autorin ADHS – hier wür­den ganz ver­schie­de­ne Verläufe in einen Topf gewor­fen, unter einem Namen ver­sam­melt. Dunja Voos ver­gleicht das mit dem Weinen: Hier sind die Symptome gleich, aber die Ursachen kön­nen gänz­lich unter­schied­lich sein: Man kann ohne Grund, aus Freude, vor Angst, aus Wut, vor Scham, vor Schmerz usw. wei­nen. Es genü­ge also nicht, nur ADHS zu dia­gnos­ti­zie­ren und zu behan­deln, man müs­se nach den Ursachen for­schen und sie bear­bei­ten. Und ein Weg, dies zu tun, sei die Psychoanalyse.

Im zwei­ten Teil des Buches – zu den „häu­fi­gen Diagnosen“ – geht die Autorin unter ande­rem auf Neurose, Psychose, Depression, Burnout, Angst und Borderline ein. Es fal­len hier auch eini­ge Fachbegriffe wie hohes und nied­ri­ges Strukturniveau, Repräsentanzen, es ist vom Ich, Es und Über-Ich die Rede, die ora­le, ana­le und ödi­pa­le Phase wer­den am Rande erwähnt. Doch kei­ne Sorge, es bleibt ver­ständ­lich und leser­freund­lich – und sehr auf­schluss­reich! Dieses Buch kann Bedenken neh­men und den Rücken stär­ken, wenn man für sich über eine Psychoanalyse nach­denkt. Nach dem Lesen ist die­se Therapieform kein Buch mit sie­ben Siegeln mehr. Dunja Voos ver­mit­telt: Psychoanalyse kann hel­fen, sie tut gut, kann genau das Richtige sein – denn der Therapeut hört zu, baut eine Beziehung auf, ist ver­läss­lich und eine Person, die eine Heilung oder eine Verbesserung beglei­ten kann. Die Autorin ver­säumt aber auch nicht zu sagen, dass Psychoanalyse viel kann, jedoch kein Allheilmittel ist, natür­lich hat sie ihre Grenzen.

Im Anhang fin­den sich noch wei­ter­füh­ren­de Adressen (Bundesärztekammer, psy­cho­ana­ly­ti­sche Vereinigungen usw.), die Literaturliste sowie eine Übersicht über „Studien zur Wirksamkeit psy­cho­ana­ly­ti­scher Therapien“.

Fazit: „Psychoanalyse tut gut“ ist ein äußerst emp­feh­lens­wer­tes Buch, mit dem Dunja Voos auf eine sehr mensch­li­che, kom­pe­ten­te und auch kurz­wei­li­ge Art über die Psychoanalyse infor­miert – es ist eine gute Wahl, egal ob man sich ein­fach nur schlau machen will oder beab­sich­tigt, selbst eine Psychoanalyse zu beginnen.

Dunja Voos
Psychoanalyse tut gut. Ein Ratgeber für Hilfesuchende
173 Seiten
Psychosozial-Verlag 2011
ISBN: 9783837921458
16,90 EUR