Dick ist das neue schwul? „Bauchgefühle. Mein Körper und sein wahres Gewicht“ von Susann Sitzler

Ich fand ja schon Sabine Asgodoms „Das Leben ist zu kurz für Knäckebrot“ gut. Aber die­ses Buch hier von Susann Sitzler – ist bes­ser! Denn was bei Asgodom eher nur anklang, etwas zusam­men­ge­stü­ckelt wirk­te und am Ende (in mei­nen Ohren) in einem „Finde dich damit ab und du nimmst schon von selbst genug ab“ ver­hall­te, ist in „Bauchgefühle“ von vorn bis hin­ten schlüs­sig, grif­fig und auf den Punkt gebracht aus­ge­ar­bei­tet und durch­ge­zo­gen: Jeder Körper hat sein „wah­res Gewicht“!

Aber lang­sam. Eine Sache vor­ab: Ich lese kei­ne Diätbücher. Ich. Lese. Keine. Diätbücher. Ich lese auch kei­ne Zeitschriften, die Frauen anschrei­en: Kauf mich!!! Ich mach dich dünn!!! Los, mach schon!!! Jetzt aber!!! Nee, nicht mit mir. Aber Bücher, in denen es auf einem Treppchen wei­ter oben um die­ses Thema geht: Frauen, Gewicht, dick, dünn – die hol ich mir schon eher ins Haus. Gern. Denn die depri­mie­ren mich net­ter­wei­se nicht, son­dern geben mir zu den­ken. Bringen viel­leicht auch was ins Rollen. Setzen nicht auf der unters­ten Stufe an (Super-Diät = dünn = glücklich).

„Bauchgefühle“ also. Ein klei­nes, hand­li­ches Buch mit einem sehr anspre­chen­den Coverbild: Es zeigt drei Frauen, bes­ter Laune, die man dick nen­nen könn­te. Wenn man das woll­te. Die sich dick nen­nen wür­den. Wenn sie das woll­ten. Susann Sitzlers These ist: Jeder Mensch, jeder Körper hat sein „wah­res Gewicht“. Dick- oder Dünnsein ist ange­bo­ren – wie die Körpergröße, die Haarfarbe usw. Und das geht natür­lich in die Anfänge der Menschheit zurück. Die, die das Essen opti­mal ver­wer­ten konn­ten, über­leb­ten. Das sind die, die heu­te dick wer­den, wenn sie essen, wie sie wol­len. Und das sind die meis­ten. In Ländern wie Deutschland steht das Essen jeder­zeit schier unbe­grenzt zur Verfügung, unse­re kalo­rien­strot­zen­den Körper müs­sen jedoch oft nur am Schreibtisch sit­zen und tip­pen. Und zur Mittagspause auf­ste­hen. Dann schnell ein­kau­fen. Eine Runde durch den Park dre­hen. In die Kneipe gehen. Und dann ins Bett. Oder so.

Zugleich ist dick aber nicht akzep­tiert. Dick ist dick, ob eigent­lich schlank, wenig Übergewicht oder fett. Dick oder dünn, das ist die Frage. Und dick ist schlecht. Dicke wer­den dis­kri­mi­niert, wie Frauen, Schwarze, Schwule – aber es kom­me lang­sam eine Emanzipationsbewegung ins Rollen, so Susann Sitzler. Weil dick schlecht ist, ste­hen man­che, die eigent­lich nicht dünn sein wür­den, im ewi­gen Kampf mit sich selbst und ihrem Körper. Ob sie nun Kalorien zäh­len, sich das Essen ver­bie­ten oder ihren Körper mit Sport quä­len. Immer das Schreckgespenst FETT vor Augen. Dabei müss­te ihr wah­res Gewicht nicht bei 180 Kilo lie­gen. Extrem über­ge­wich­ti­ge Menschen gäbe es nur weni­ge, der Großteil wür­de sich irgend­wo zwi­schen 60 und 100 ein­pen­deln. Wenn er nicht ewig kämp­fen würde.

Susann Sitzler räumt noch mit eini­gem ande­ren auf: mit dem all­ge­gen­wär­ti­gen BMI, der Mär vom bösen Bauchspeck und von den Dicken, die die Krankenkassen mel­ken (nö, tun sie nicht). Sie bringt Eichhörnchen und Dinosaurier ins Spiel, klärt auf, wel­che Rolle Missbilligung, Kränkung und dar­aus resul­tie­ren­der Stress in einem Dickenleben ein­neh­men kön­nen, erwähnt pro­mi­nen­te Dünne und Dicke wie Renate Künast, die äußerst kühn (und nicht halt­bar) mit „dicken Zahlen“ jon­gliert habe, auch Joschka Fischer als Verkörperung des Jojoeffekts.

Das Ganze ist alles ande­re als tro­cken und fade – da Susann Sitzler sich selbst zu Wort mel­det, sie ist die per­sön­li­che Seite, die Autorin, die sich nicht hin­ter ihrem Text ver­ste­cken muss. Das kann ein Identifikationsangebot sein, aber sicher auch Diskussionen her­aus­for­dern. Zum Glück, denn wie lang­wei­lig ist doch ein Buch, das jeder nur run­ter­liest, ja und amen denkt – und dann Klappe zu. Ich hab lei­der gar nichts zu meckern, das Buch ist ein­fach gut und ein ech­ter Augenöffner. Bloß der Titel, der passt nicht so ganz. Denn „Bauchgefühle“ ist eine Nummer zu rosa für das, was die Autorin zwi­schen den bei­den Buchklappen ver­sam­melt hat: eine Mischung, die für man­che durch­aus pro­vo­ka­tiv bis explo­siv sein kann.

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Susann Sitzler
Bauchgefühle. Mein Körper und sein wah­res Gewicht
2011, 187 S., gebunden
C.H.Beck
ISBN 978–3‑406–62200‑7
12,95 Euro

2 Kommentare

  1. Ui, das ist aber eine tol­le Rezension! Ich lese Rezensionen sonst nie, aber die­se mag ich! Ist mir ehr­lich noch nicht oft pas­siert, solch ein Rezensionsurteil. (Ist mein Kommentar jetzt eigent­lich so was wie die Rezension einer Rezension?)

  2. Total meta, Julia, auf jeden Fall. Aber dan­ke! :) (Ich lese auch eher sel­ten Rezensionen, bin ich jetzt komisch?)

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