„Henrietta spürt den Wind“ von Jochen Weeber und Fariba Gholizadeh

Henrietta, genannt Henry, geht in die ers­te Klasse und hat nur ein Hobby: Computerspielen. Egal ob es drau­ßen hell oder dun­kel, Winter oder Sommer ist, Henry sitzt an ihrem Tisch, mit dem Rücken zum Fenster, und spielt Computer. Durch eben­die­ses Fenster kommt eines Frühlingstages mit Krach und Scherben ein Ball geflo­gen: Ole, Paul und Luise aus der Parallelklasse sind schuld, ren­nen aber nicht weg, son­dern schau­en, ob Henrietta okay ist, und fra­gen sie nach ihrem Computerspiel – bei dem man Spinnen, Käfer, Libellen und Frösche fan­gen muss.

Henrietta geht mit den drei­en raus, sie sprin­gen über den Bach, klet­tern auf einen Baum, lie­gen im Gras, beob­ach­ten eine Amsel und lan­den schließ­lich im Wald bei den klei­nen Tümpeln, in denen sich Kaulquappen tum­meln und win­zi­ge grü­ne Frösche. Einen neh­men sie ganz vor­sich­tig hoch und las­sen ihn von Hand zu Hand sprin­gen. Henrietta schließt die Augen, spürt den Frosch in der Hand und hört den Wind in den Bäumen.

Das letz­te Bild im Buch zeigt Henrietta abends im Bett, ihr Vater sitzt auf der Decke, bei­de haben die Augen geschlos­sen und hal­ten eine Hand hoch, als hiel­ten sie einen Frosch …

Wunderbar ist, dass die­ses Bilderbuch ohne erho­be­nen Zeigefinger aus­kommt. Computerspielen wird nicht ver­ur­teilt, son­dern eine Alternative gezeigt: drau­ßen zusam­men mit Freunden spie­len und mit allen Sinnen die Natur erle­ben. Wunderbar sind auch die Illustrationen von Fariba Gholizadeh. Sie sind far­ben­froh, aber nicht schrill, abwechs­lungs­reich, aber nicht unru­hig. So gibt es bei den vier Kindern vier ver­schie­de­ne Haarfarben, ein leuch­ten­des Rot bei Henrietta, bei den ande­ren blond, schwarz und braun. Baumstämme sind weiß, bläu­lich, grün bis braun, und man­che Bäume erin­nern von der Form her an Kaulquappen. Kleine Details fal­len auf, wenn man die Bilder genau­er anschaut, so bekommt die Topfpflanze an Henriettas Fenster mit jedem Bild mehr Blüten, bis sie schließ­lich vom Ball getrof­fen auf den Fußboden fällt. Henriettas Katze spielt wei­ter kei­ne Rolle, sitzt oder läuft aber immer wie­der durchs Bild.

Für ein Bilderbuch hat „Henrietta spürt den Wind“ rela­tiv viel Text, aber in ordent­lich gro­ßer Schrift und mit ein­fa­chen, nicht zu lan­gen Sätzen. Wörter und Bilder har­mo­nie­ren, beson­ders auf den ers­ten Seiten ergän­zen sie sich per­fekt. Kurzum: ein schö­nes Buch, in jeder Hinsicht.

Henrietta spürt den Wind
Text: Jochen Weeber, Illustrationen: Fariba Gholizadeh
32 Seiten
ab 4 Jahren
Patmos Verlag 2017
ISBN: 978–3‑8436–0881‑7
12,99 Euro

Ilse Bos: „Die wilde Meute“

Das Buch hat etwas von Pippi Langstrumpf: In „Die wil­de Meute“ regeln drei­zehn Kinder, von zwölf bis vier Jahre alt, ihren Alltag ohne Erwachsene. Sie gehen regel­mä­ßig in die Schule, ein Junge bekocht alle, zusam­men hal­ten sie das Hausboot, auf dem sie leben, in Schuss. Pola, die die Geschichte größ­ten­teils erzählt, ist die Älteste und des­we­gen die Bestimmerin, sie hat zwei Halbbrüder, die ande­ren Mädchen und Jungen sind alle irgend­wann zur Familie dazu­ge­sto­ßen, adop­tiert von Polas Mutter Tineke. Tineke ist das Jahr über in der gan­zen Welt unter­wegs, um zu arbei­ten und nach ihrer gro­ßen Liebe zu suchen, Polas Vater, den sie kurz nach dem Kennenlernen gründ­lich aus den Augen ver­lo­ren hat­te. Alle drei Monate schaut sie bei den Kindern vor­bei und ruft jeden Samstag zur glei­chen Zeit an.

Die Geschichte beginnt damit, dass eine über­eif­ri­ge Dame vom Jugendamt nach­forscht, ob die drei­zehn Kinder einen gere­gel­ten Tagesablauf mit Eltern haben, und dass über­all in der Stadt gro­ße Löcher auf­tau­chen, eins davon direkt vor der Schule, in die die Kinder gehen. Niemand weiß, wer die Löcher gräbt, das will ich auch gar nicht ver­ra­ten, nur so viel: Es ist ein biss­chen wie in Michael Endes „Momo“, wo die grau­en Herren die Zeit rau­ben, bloß anders. In „Die wil­de Meute“ geht es nicht um die Zeit, son­dern dar­um, dass alles zuge­baut wird und einen Zweck hat, dass es kei­nen Platz mehr zum Toben und Wildsein gibt. Das bekom­men auch die drei­zehn Kinder zu spü­ren: Ihr Hausboot ankert an einer Halbinsel, die ursprüng­lich ver­las­sen und ver­wil­dert war, doch im Laufe der Jahre wur­de sie besie­delt und die Häuser rücken immer näher ans Meer und damit ans Boot.

Das Buch liest sich wun­der­bar, dazu tra­gen auch die schö­nen Illustrationen von Linde Faas bei. Bunt, leicht und detail­ver­liebt, jedes der drei­zehn Kinder ist auf eine ganz typi­sche Weise dar­ge­stellt. Lesenderweise könn­te man bei so vie­len Kindern schnell den Überblick ver­lie­ren, was die Autorin ver­hin­dert, indem sie jedes Kind klar cha­rak­te­ri­siert, aber nicht scha­blo­nen­haft und nicht über das Äußere. Da ist Jan, der stän­dig etwas strickt und schnell weint. Da ist Wolke, die meis­tens auf den Boden schaut und Tierchen ret­tet, egal ob Käfer oder Assel. Da ist Knut, der so wenig wie mög­lich redet, aber alle vor­züg­lich bekocht. Am Ende des Buches fin­det sich eine Übersicht aller Kinder, mit Bild und kur­zem Steckbrief.

Und die Geschichte selbst? Die ist eine gelun­ge­ne Mischung aus Abenteuer- und Familiengeschichte, mit etli­chen Überraschungen und einem glück­li­chen Ende. Schön!

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Ilse Bos: Die wil­de Meute
Mit Illustrationen von Linde Faas
Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart
303 Seiten
zum Vorlesen ab 7 Jahren, zum Selberlesen ab 10 Jahren
Urachhaus 2016
ISBN: 978–3‑8251–7927‑4
17,90 Euro

„Jem hört die Haie husten“ von Andreas Hüging

Jem ist elf und ver­bringt drei Wochen sei­ner Sommerferien mal wie­der auf der Nordseeinsel Hummerstrand. Aber nicht in einem Hotel oder Ferienhaus mit sei­nen Eltern, son­dern im Kurheim „Haus Horizont“, zusam­men mit ande­ren Kindern und Jugendlichen, die ent­we­der wie er „Lunge haben“ oder im Rollstuhl sit­zen, Spastiker sind usw. Lieber wäre er mit sei­nen Eltern in Griechenland, doch sein Vater will Extremsport machen und sei­ne Mutter (sagt zumin­dest der Vater) braucht mal ihre Ruhe.

Jems Lunge kommt ziem­lich schnell an ihre Grenzen, wes­we­gen er immer sein Lungenspray dabei­hat. Ausgiebig Sport machen ist für ihn nicht drin, aber ansons­ten ist er ein stink­nor­ma­ler Junge. Einer, der befürch­tet, dass die Ferien im „Hoz“, wie alle das Kurheim nen­nen, ein­fach nur lang­wei­lig wer­den. Das wer­den sie aller­dings so gar nicht: Gleich am Anfang taucht an der Inselküste ein Hai auf und Jem fin­det in sei­nem Tiramisu einen Zettel mit einer Geheimbotschaft. Als er dem Hai nach­spürt und die Botschaft ent­schlüs­selt, steckt er schon mit­ten­drin in einem Abenteuer. Beziehungsweise, sie­he Untertitel des Buches: in der „kri­mi­nells­ten Kur-Geschichte aller Zeiten“ – mit einem Verbrechen, etli­chen Verdächtigen und nicht nur einem, son­dern drei Amateur-Ermittlern.

Denn Jem ist nicht allein unter­wegs, son­dern mit der quir­li­gen Flo (sitzt im Rollstuhl) und dem super­schlau­en Bernd (ist Spastiker). Und er merkt bald: Freunde sind wirk­lich das Beste, was einem pas­sie­ren kann, wenn selt­sa­me Dinge gesche­hen, nie­mand einem glaubt, alle Erwachsenen vor Ort irgend­wie ver­däch­tig erschei­nen und die Eltern am Rad drehen …

Das Buch ist rich­tig gut geschrie­ben, es bleibt bis zum Schluss span­nend und ist zwar wit­zig, aber nicht flach, man wird in Nullkommanichts mit Jem und Co. warm und bleibt bei den lei­se­ren Szenen auch mal län­ger hän­gen. Ein abso­lu­ter Hingucker ist das Cover, das Nina Dulleck gestal­tet hat, und als Extra gibt’s auf den Buchseiten unten ein Hai-Daumenkino.

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Andreas Hüging: Jem hört die Haie hus­ten. Die kri­mi­nells­te Kur-Geschichte aller Zeiten
Lektorat: Kathleen Neumann
Umschlagillustration: Nina Dulleck
184 Seiten
ab 10 Jahren
ueber­reu­ter 2016
ISBN: 978–3‑7641–5097‑6
12,95 Euro