„Der kleine Baum und das Wood Wide Web“ von Lucy Brownridge und Hannah Abbo

In einem uralten Wald beginnt ein Baum zu wach­sen, eine Douglasie. Er ist noch ziem­lich klein und braucht Licht, also streckt er sei­ne Äste nach oben. Er braucht Wasser, also reckt und streckt er sei­ne Wurzeln tief in die Erde hin­ein. Es ist jedoch Sommer und reg­net ewig nicht, der Baum braucht Hilfe. Schließlich „weint“ er, nicht in Form von Tränen, son­dern „die Traurigkeit (dringt) aus sei­nen Wurzeln und ver­brei­tet sich im Boden“, wo Pilzfäden ein Netzwerk bil­den, das Wood Wide Web. Das unter­ir­di­sche Pilzgeflecht lei­tet den Hilferuf des klei­nen Baumes an die ande­ren Bäume wei­ter, ver­brei­tet ihn im gan­zen Wald. Eine Papier-Birke kann schließ­lich hel­fen, sie gibt Wasser und Zucker über ihre Wurzeln ins Wood Wide Web, das bei­des zum klei­nen Baum trans­por­tiert. Im Winter kann sich der klei­ne Baum dann revan­chie­ren: Die Birke hat all ihre Blätter ver­lo­ren und kann kei­nen Zucker pro­du­zie­ren, ihre Zuckervorräte hat sie dem klei­nen Baum gege­ben. Nun hilft der klei­ne Baum ihr, denn er bil­det durch sei­ne immer­grü­nen Nadelblätter auch im Winter Zucker, den er nicht kom­plett selbst benötigt.

Das Wood Wide Web ein­fach und span­nend für Kinder ab fünf Jahren erklä­ren? Das gelingt der Autorin und der Illustratorin mit die­sem Buch sehr gut. Die Texte sind schön kurz und ohne Fachbegriffe wie Photosynthese und Symbiose. Die kann man am Schluss unter „Wissenswertes“ nach­le­sen, dort fin­den sich elf Begriffe von Douglasie bis Zucker für alle, die es genau­er wis­sen wol­len. Auf der fol­gen­den Seite erfährt die Leserin, der Leser, dass die Geschichte auf einer wah­ren Begebenheit beruht, einer Entdeckung der Professorin Suzanne Simard, die beob­ach­tet hat­te, dass Papier-Birken und Douglasien Nährstoffe übers Wood Wide Web teilten.

Die Forschung zum Wood Wide Web hat erst begon­nen, umso bes­ser, dass es schon die­ses Bilderbuch gibt. Zu wis­sen, dass Bäume bzw. Pflanzen kom­mu­ni­zie­ren, dass sie ein­an­der hel­fen, kann die Sicht auf unse­re Umwelt, auf die Natur ändern. Ein Baum ist kein toter Gegenstand, der für sich allein exis­tiert, er lebt und ist mit ande­ren Wesen im Austausch. Diese Botschaft ver­mit­teln auch die Illustrationen. Passend zur Zielgruppe haben die Bäume net­te Gesichter, denen man ansieht, wie es ihnen gera­de geht. Die Farben sind ein­fach und klar, sicht­ba­re Striche brin­gen Struktur in Bäume, Gräser, Sträucher, Erde, Tiere. Die Baumwipfel sind enorm abwechs­lungs­reich in Farbe und Form, es ist ein gemisch­ter, bun­ter, viel­fäl­ti­ger Wald, in dem der klei­ne Baum lebt. Auch in die Erde hin­ein geht der Blick: auf die Wurzeln und das Pilzgeflecht natür­lich, aber auch auf die Tiere, die dort Höhlen haben und Gänge gra­ben, von Fuchs über Maulwurf bis Hase.

Die Bilder neh­men mal eine Doppelseite ein, mal ist auf einer Seite ein Komplettbild und auf der ande­ren eine Bildwolke. Zusammen mit eini­gen Sprechblasen sorgt das für wei­te­re Abwechslung. Ein Buch zum Entdecken und Staunen, das auch den erwach­se­nen Vorleserinnen und Vorlesern gefal­len dürfte.

Der klei­ne Baum und das Wood Wide Web
Text: Lucy Brownridge
Illustrationen: Hannah Abbo
Aus dem Englischen von Sebastian Hoch
32 Seiten
ab 5 Jahren
2024 Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978–3‑7725–3197‑2
16 Euro

„Ein Lied für Ella Grey“ von David Almond

Erzählerin des Buches ist Claire, seit frü­hes­ter Kindheit die bes­te Freundin von Ella Grey, bei­de sieb­zehn. Claire liebt Ella, Ella liebt Claire, bis sie Orpheus trifft, den sie mehr oder anders liebt. Richtig, Orpheus wie Orpheus und Eurydike, und an die­ser Sage ori­en­tiert sich Autor David Almond auch stark. Wer die alte Story kennt, kann sich den­ken, wel­che Rolle Schlangen im Ella-Grey-Buch spie­len. Dass sie wich­tig sind, sieht man schon beim ers­ten Blick, auf dem Cover ist eine Schlange, auf dem far­bi­gen Buchschnitt ebenfalls.

Viel Zeit ver­bringt die Leserin, der Leser mit Claires und Ellas Clique, die Jugendlichen hän­gen zusam­men ab, trin­ken Alkohol, machen Musik, tan­zen. Bei einem gemein­sa­men wil­den Urlaub am Strand tref­fen sie Orpheus, der in ihrem Alter und nicht greif­bar ist, woher kommt er, was macht er, wohin geht er – er sagt es nicht, man weiß es nicht. Er hat eine Lyra dabei, wenn er spielt, ver­zau­bert er die Menschen um sich her­um, eben­so Tiere, das Meer, den Sand, die Steine … Orpheus und Ella lie­ben sich von jetzt auf sofort, „hei­ra­ten“ am Strand und dann wird es schnell tragisch.

„Ein Lied für Ella Grey“ spielt Orpheus natür­lich, bei ver­schie­de­nen Gelegenheiten. Aber die gan­ze Geschichte ist gleich­falls ein Lied für Ella Grey, gesun­gen bzw. erzählt von Claire. Das liest sich poe­tisch, fra­gend, ver­wirrt, melan­cho­lisch, so wie ein Autor um die sech­zig eine Jugend und eine Liebe sehen mag, wenn er ein „Jetzt“ mit einem Stoff aus der grie­chi­schen Mythologie ver­we­ben will. Das Buch ist im Original auf Englisch schon 2014 her­aus­ge­kom­men, 2024 nun also auf Deutsch. Die zehn Jahre sind kein Problem, weil die Dinge, die Jugendliche so machen, sich ver­mut­lich nicht grund­le­gend ver­än­dern und die Orpheus-Eurydike/Ella-Geschichte sowie­so aus der Zeit gefal­len ist.

Eine Neuauflage des Orpheus-Eurydike-Dramas hät­te für mich ruhig frei­er und eman­zi­pier­ter sein kön­nen. Das Buch mag den­noch etwas sein für Menschen, die sich für den Stoff inter­es­sie­ren und ein Faible für schö­ne, gefühls­be­ton­te, womög­lich viel­sa­gen­de Worte haben.

David Almond: Ein Lied für Ella Grey
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Umschlag-/Innenillustration: Franziska Viviane Zobel
218 Seiten
ab 14 Jahren
2024 Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978–3‑7725–3133‑0
20 Euro

„Die Wale und wir“ von India Desjardins und Nathalie Dion

Ein Bilderbuch über Wale, das könn­te eine Geschichte oder ein Sachbuch sein. India Desjardins hat bei­des ver­bun­den, sie greift Geschichten über Wale auf und infor­miert zu ver­schie­de­nen Themen, teils geht das inein­an­der über. In einer Geschichte zum Beispiel hat sich ein Beluga in einem Fischernetz ver­fan­gen, ein Fischer ret­tet ihn, der Beluga schwimmt weg, kehrt dann aber noch mal um und nickt dem Menschen wie zum Dank zu. Im Anschluss fragt die Autorin unter ande­rem, war­um Wale Luft zum Atmen brau­chen, ob sie nicken und ob sie Dankbarkeit zei­gen kön­nen. Die Antworten sind sach­lich, auf Basis der aktu­el­len Forschungslage, knapp genug und in ein­fa­chen Worten.

Das gan­ze Buch ist eine fas­zi­nie­ren­de Zusammenstellung von Fakten und Fiktion zu Walen, nicht geord­net wie ein Sachbuch, son­dern eher im Fluss, wie es so kommt. Am Anfang steht die Unterteilung der Wale in zwei Gruppen, auf jeweils einer Doppelseite wer­den die Bartenwale und Zahnwale vor­ge­stellt, mit weni­gen Zeilen bloß, aber selbst­ver­ständ­lich mit Bildern von diver­sen Walen. Zur Geschichte der Wale erfährt die Leserin, der Leser etwa, dass es sie seit 35 Millionen Jahren gibt, sie jedoch erst seit 4,5 Millionen Jahren so groß sind.

Ab sie­ben Jahren ist das Buch laut Verlag, und das mag pas­sen, denn Kinder kön­nen sich erst mal an die Geschichten und Bilder hal­ten, die Wale in allen mög­li­chen Situationen zei­gen, ein Wiedererkennen gibt es viel­leicht bei einer Szene aus „Pinocchio“, mit Pinocchio und Geppetto im Bauch des Wales. Die Bilder sind kind­ge­recht, aber nicht nied­lich, für Erwachsene dürf­te beim Betrachten eine Prise Wehmut mit­schwin­gen, in Verbindung mit den Texten. Die Autorin macht recht deut­lich, dass Wale stark bedroht sind: durch Überfischung (weni­ger Nahrung für die Wale), den Einsatz von immer mehr Fischernetzen, durch Umweltverschmutzung (spe­zi­ell Plastikmüll), durch Schiffsverkehr und Schiffslärm (erschwert Walen die Orientierung) und nach wie vor durch Walfang, kurz­um: durch den Menschen.

Ob die Wale noch zu ret­ten sind, dar­an scheint die Autorin selbst zu zwei­feln, so schreibt sie in ihrem Vorwort, sie hät­te irgend­wann ver­stan­den, war­um Wale sie so fas­zi­nier­ten: „weil sie gleich einem dunk­len Vorzeichen das Ende einer Welt ankün­di­gen, in der sie exis­tie­ren kön­nen“. Was pas­siert mit einer Welt, in der Wesen, die es seit 35 Millionen Jahren gibt, nicht mehr leben kön­nen? Im letz­ten Jahrhundert gab es dem­nach noch 250.000 Blauwale, heu­te nur noch 5000.

Manche Texte und Erklärungen sind etwas anspruchs­vol­ler, wenn bei­spiels­wei­se die Kommunikation der Wale erklärt wird, von der Erzeugung der Laute bis zur Echoortung. Das Buch rich­tet sich also offen­sicht­lich eben­so an älte­re Kinder und Erwachsene. Auf 56 Seiten ver­mit­telt die Autorin etli­che Infos, jedoch nicht zu vie­le. Das ist ja durch­aus ein Nachteil von rei­nen Sachbüchern, dass sie ein umfas­sen­des Bild geben sol­len und wol­len, man aber das meis­te gleich nach dem Lesen wie­der ver­gisst. Und der emo­tio­na­le Faktor ist bei „Die Wale und wir“ natür­lich wesent­lich. Das Buch dürf­te bei vie­len den Wunsch wecken, etwas für die Wale zu tun. Am Schluss fin­det sich eine Liste mit Dingen, die man selbst oder gemein­schaft­lich machen kann, um die Lage der Wale bzw. der Tiere in den Meeren gene­rell zu ver­bes­sern. Und auf der letz­ten Seite sind Websites von Organisationen und Institutionen auf­ge­lis­tet, die über Wale infor­mie­ren bzw. sich für den Schutz von Walen einsetzen.

Die Wale und wir
Text: India Desjardins
Illustrationen: Nathalie Dion
Aus dem Französischen von Caroline Grafe
56 Seiten
ab 7 Jahren
2023 Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978–3‑7725–3138‑5
22 Euro