„Pass auf!“ von Silvia Borando

Die Geschichte kommt tat­säch­lich gänz­lich ohne Worte aus, nie­mand sagt etwas, nie­mand erzählt etwas. Man sieht es auf dem Cover: Die Farben und Formen sind ein­fach und klar, die Bilder über­sicht­lich und schnell zu erfas­sen. Es gibt bloß zwei Szenarien: den Blick von drau­ßen auf ein klei­nes Haus, genau­er: auf ein hell erleuch­te­tes Fenster – und den Blick von drin­nen auf einen klei­nen, kah­len Baum im Schnee. Es schneit, und am Fenster sit­zen zwei Kinder und schau­en hin­aus zum Baum. Im Wechsel sieht man die Gesichter der Kinder und den Baum. Am Baum tut sich was, ein Vogel taucht auf. Und dann noch ande­re Tiere. Klingt lang­wei­lig? Ist es nicht. Es ist qua­si Fenstertheater, fast ein Fensterkrimi. Was sich drau­ßen abspielt, darf natür­lich nicht ver­ra­ten wer­den. Nur so viel: Wie sich mit weni­gen gestal­te­ri­schen Mitteln und, wie bereits erwähnt, ganz ohne Worte eine fes­seln­de Bildergeschichte ent­wi­ckelt, ist echt faszinierend.

Das Buch hat natür­lich doch eini­ge weni­ge Worte, und zwar die, die auf dem Einband ste­hen – Autorin, Titel, Verlag, Klappentext. Es ist klein und fein, wun­der­bar für den Winter.

Silvia Borando: Pass auf!
Originaltitel: Guarda fuori
44 Seiten
ab 3 Jahren
2019 Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978-3-7725-2921-4
14 Euro

„Babel“ von Jan de Leeuw

Das Buch ist durch­aus ver­wir­rend, was bei dem Titel eher nicht ver­wun­dert. Tatsächlich steht im Zentrum der Geschichte ein 330 Stockwerke hoher Turm, der „Babel“ heißt, nach dem Mann, der ihn erbau­en ließ, Abraham Babel. Babel ist Unternehmer, hat mit den Jahrzehnten immer mehr Geld ange­häuft und damit auch Macht. Ein Heer von Angestellten arbei­tet für ihn, nicht weni­ge davon sol­len für sei­ne Sicherheit sor­gen. Denn immer wie­der gibt es Anschläge auf ihn, bei einem kam fast sei­ne gan­ze Familie um, geblie­ben ist ihm nur sei­ne Enkeltochter Alice, die seit­dem gelähmt ist.

Alice hat alles, was man für Geld kau­fen kann, doch man ahnt es bereits: Sie ist weit davon ent­fernt, glück­lich zu sein. Licht kommt mit Naomi in ihr Leben, einer Angestellten Babels aus dem unters­ten Geschoss, einer soge­nann­ten Sub. Naomi ist eine Waise, die kei­ne Vergangenheit und kei­nen Ehrgeiz zu haben scheint, etwas „aus ihrem Leben zu machen“. Sie wird Alices Gesellschafterin und bald auch Freundin. Um die­ses Paar ent­fal­tet sich der Roman und wirft auf über 400 Seiten deut­lich mehr Fragen auf, als er beant­wor­tet. Was ver­bin­det Alice und Naomi, wer ist der mys­te­riö­se Lichtenstern, der Abraham Babel immer mehr unter sei­ne Kontrolle bringt? Was hat es mit den Tarotkarten auf sich, mit den Geschossen im Turm, in denen nie­mand aus­stei­gen darf? Aber auch: Was geschieht im Namen der Religion, was machen Reichtum und Armut mit den Menschen?

Die Welt die­ses Romans scheint zum einen heu­tig und ver­traut, zum andern etwas fremd, man iden­ti­fi­ziert sich nicht mit den Figuren, son­dern schaut von außen auf sie und alles, was in und um den Babel-Turm geschieht. Eine sol­che Distanz kann für mehr Durchblick sor­gen. Den ver­schlei­ert der Autor aller­dings wie­der mit Andeutungen, Ungesagtem, Mystischem. Diese Mischung und das Buch ins­ge­samt fand ich unter­halt­sam, aber nicht „atem­be­rau­bend“, wie es der Klappentext verspricht.

Jan de Leeuw: Babel
aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
436 Seiten
ab 14 Jahren
2018 Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978-3-7725-2278-9
22 Euro

„Imagine“ von John Lennon und Jean Jullien

Im Herbst 1971 wur­de John Lennons „Imagine“ ver­öf­fent­licht, und das Lied hat seit­dem nichts an Strahlkraft ein­ge­büßt. Leider auch nicht an Aktualität. Damals war unter ande­rem Vietnamkrieg und Kalter Krieg, heu­te, 46 Jahre spä­ter, herrscht ver­mut­lich nicht weni­ger Krieg und Elend auf der Welt.

Das Bilderbuch „Imagine“ hat als Text aus­schließ­lich den Liedtext von John Lennon. Die Illustrationen sind von Jean Jullien. Er zeich­net mit dicken, schwar­zen Konturen und kolo­riert mit ein­fa­chen, eher mat­ten Farben, was an Straßenmalkreide erin­nert. Wir fol­gen einer Taube, einer Friedenstaube, die nicht nur mit einem Zweig im Schnabel unter­wegs ist, son­dern eine Tasche (mit Peace-Symbol) vol­ler Zweige dabei­hat, die sie an ande­re Vögel verteilt.

Zum Beispiel an zwei Möwen, die sich um einen Fisch strei­ten („Nothing to kill or die for, and no reli­gi­on too“), und an zwei Kolibris, die sich um eine Blüte zan­ken („Imagine no pos­ses­si­ons … No need for greed or hun­ger“). Am Schluss, als es dun­kel wird, lan­det die Taube erschöpft auf einem Baum, die Tasche ist leer, kein Zweig ist mehr drin. Doch dann kom­men alle Vögel ange­flo­gen, die sie im Laufe des Tages getrof­fen hat, jeder sieht anders aus, in Farbe und Form – „You may say I’m a drea­mer, but I’m not the only one. I hope some day you’ll join us, and the world will live as one“.

Unter den eng­li­schen Liedzeilen steht immer direkt die deut­sche Übersetzung von Richard Rosenstein. Er über­setzt nicht wört­lich, was zunächst viel­leicht etwas irri­tiert. Aber die Übersetzung hat Klasse und ist etwas Eigenes, am bes­ten wirkt sie, wenn man sie als Ganzes liest, auf der letz­ten Seite ste­hen sowohl der kom­plet­te Originaltext als auch die Übersetzung.

Vielleicht zwei Beispiele: „A brot­her­hood of man“ über­setzt Rosenstein mit „Die Menschheit ganz ver­eint“. Das ist natür­lich tau­send­mal bes­ser als „Bruderschaft der Menschen“, was man tat­säch­lich auch fin­det, wenn man nach Übersetzungen von „Imagine“ Ausschau hält. Im Lied wird zwi­schen „hea­ven“ und „sky“ unter­schie­den, „Imagine there’s no hea­ven“ und „Above us only sky“, Rosenstein macht dar­aus „Wie wär es ohne Himmel?“ und „Über uns Blau allein“. Schön gelöst, fin­de ich!

Und schön ist das Buch ins­ge­samt, das eben kei­ne Bilder von Hunger, Krieg und Elend zeigt, son­dern mit John Lennons Worten wirkt und mit Illustrationen, die bereits für klei­ne Kinder geeig­net sind, die man so an das Thema her­an­füh­ren kann.

Imagine
Text: John Lennon, Illustrationen: Jean Jullien
Mit einem Vorwort von Yoko Ono Lennon
Aus dem Englischen von Richard Rosenstein
32 Seiten
Freies Geistesleben 2017
ISBN: 978-3-7725-2800-2
16 Euro