„Babel“ von Jan de Leeuw

Das Buch ist durch­aus ver­wir­rend, was bei dem Titel eher nicht ver­wun­dert. Tatsächlich steht im Zentrum der Geschichte ein 330 Stockwerke hoher Turm, der „Babel“ heißt, nach dem Mann, der ihn erbau­en ließ, Abraham Babel. Babel ist Unternehmer, hat mit den Jahrzehnten immer mehr Geld ange­häuft und damit auch Macht. Ein Heer von Angestellten arbei­tet für ihn, nicht weni­ge davon sol­len für sei­ne Sicherheit sor­gen. Denn immer wie­der gibt es Anschläge auf ihn, bei einem kam fast sei­ne gan­ze Familie um, geblie­ben ist ihm nur sei­ne Enkeltochter Alice, die seit­dem gelähmt ist.

Alice hat alles, was man für Geld kau­fen kann, doch man ahnt es bereits: Sie ist weit davon ent­fernt, glück­lich zu sein. Licht kommt mit Naomi in ihr Leben, einer Angestellten Babels aus dem unters­ten Geschoss, einer soge­nann­ten Sub. Naomi ist eine Waise, die kei­ne Vergangenheit und kei­nen Ehrgeiz zu haben scheint, etwas „aus ihrem Leben zu machen“. Sie wird Alices Gesellschafterin und bald auch Freundin. Um die­ses Paar ent­fal­tet sich der Roman und wirft auf über 400 Seiten deut­lich mehr Fragen auf, als er beant­wor­tet. Was ver­bin­det Alice und Naomi, wer ist der mys­te­riö­se Lichtenstern, der Abraham Babel immer mehr unter sei­ne Kontrolle bringt? Was hat es mit den Tarotkarten auf sich, mit den Geschossen im Turm, in denen nie­mand aus­stei­gen darf? Aber auch: Was geschieht im Namen der Religion, was machen Reichtum und Armut mit den Menschen?

Die Welt die­ses Romans scheint zum einen heu­tig und ver­traut, zum andern etwas fremd, man iden­ti­fi­ziert sich nicht mit den Figuren, son­dern schaut von außen auf sie und alles, was in und um den Babel-Turm geschieht. Eine sol­che Distanz kann für mehr Durchblick sor­gen. Den ver­schlei­ert der Autor aller­dings wie­der mit Andeutungen, Ungesagtem, Mystischem. Diese Mischung und das Buch ins­ge­samt fand ich unter­halt­sam, aber nicht „atem­be­rau­bend“, wie es der Klappentext verspricht.

Jan de Leeuw: Babel
aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
436 Seiten
ab 14 Jahren
2018 Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978–3‑7725–2278‑9
22 Euro

„Imagine“ von John Lennon und Jean Jullien

Im Herbst 1971 wur­de John Lennons „Imagine“ ver­öf­fent­licht, und das Lied hat seit­dem nichts an Strahlkraft ein­ge­büßt. Leider auch nicht an Aktualität. Damals war unter ande­rem Vietnamkrieg und Kalter Krieg, heu­te, 46 Jahre spä­ter, herrscht ver­mut­lich nicht weni­ger Krieg und Elend auf der Welt.

Das Bilderbuch „Imagine“ hat als Text aus­schließ­lich den Liedtext von John Lennon. Die Illustrationen sind von Jean Jullien. Er zeich­net mit dicken, schwar­zen Konturen und kolo­riert mit ein­fa­chen, eher mat­ten Farben, was an Straßenmalkreide erin­nert. Wir fol­gen einer Taube, einer Friedenstaube, die nicht nur mit einem Zweig im Schnabel unter­wegs ist, son­dern eine Tasche (mit Peace-Symbol) vol­ler Zweige dabei­hat, die sie an ande­re Vögel verteilt.

Zum Beispiel an zwei Möwen, die sich um einen Fisch strei­ten („Nothing to kill or die for, and no reli­gi­on too“), und an zwei Kolibris, die sich um eine Blüte zan­ken („Imagine no pos­ses­si­ons … No need for greed or hun­ger“). Am Schluss, als es dun­kel wird, lan­det die Taube erschöpft auf einem Baum, die Tasche ist leer, kein Zweig ist mehr drin. Doch dann kom­men alle Vögel ange­flo­gen, die sie im Laufe des Tages getrof­fen hat, jeder sieht anders aus, in Farbe und Form – „You may say I’m a drea­mer, but I’m not the only one. I hope some day you’ll join us, and the world will live as one“.

Unter den eng­li­schen Liedzeilen steht immer direkt die deut­sche Übersetzung von Richard Rosenstein. Er über­setzt nicht wört­lich, was zunächst viel­leicht etwas irri­tiert. Aber die Übersetzung hat Klasse und ist etwas Eigenes, am bes­ten wirkt sie, wenn man sie als Ganzes liest, auf der letz­ten Seite ste­hen sowohl der kom­plet­te Originaltext als auch die Übersetzung.

Vielleicht zwei Beispiele: „A brot­her­hood of man“ über­setzt Rosenstein mit „Die Menschheit ganz ver­eint“. Das ist natür­lich tau­send­mal bes­ser als „Bruderschaft der Menschen“, was man tat­säch­lich auch fin­det, wenn man nach Übersetzungen von „Imagine“ Ausschau hält. Im Lied wird zwi­schen „hea­ven“ und „sky“ unter­schie­den, „Imagine there’s no hea­ven“ und „Above us only sky“, Rosenstein macht dar­aus „Wie wär es ohne Himmel?“ und „Über uns Blau allein“. Schön gelöst, fin­de ich!

Und schön ist das Buch ins­ge­samt, das eben kei­ne Bilder von Hunger, Krieg und Elend zeigt, son­dern mit John Lennons Worten wirkt und mit Illustrationen, die bereits für klei­ne Kinder geeig­net sind, die man so an das Thema her­an­füh­ren kann.

Imagine
Text: John Lennon, Illustrationen: Jean Jullien
Mit einem Vorwort von Yoko Ono Lennon
Aus dem Englischen von Richard Rosenstein
32 Seiten
Freies Geistesleben 2017
ISBN: 978–3‑7725–2800‑2
16 Euro

„Der Lügenbaum“ von Frances Hardinge

England, 19. Jahrhundert. Faiths Familie ver­lässt über­stürzt das Zuhause in Kent und reist zur Insel Vane, wo der Vater an einer Fossilienausgrabung teil­neh­men wird. Faith hat das Gefühl, sie wären auf der Flucht, doch Genaues weiß sie nicht, da ihre Eltern ihr nichts sagen. Ihre Eltern, das sind Reverend Erasmus Sunderly, der auch Naturwissenschaftler ist, und zwar Paläontologe, und Myrtle Sunderly, deren Job es ist, ihrem Ehemann den Rücken frei­zu­hal­ten, sie ist für die Kinder, den Haushalt, die Dienstboten zuständig.

Eine Zukunft wie ihre Mutter will die 14-jäh­ri­ge Faith nicht, sie inter­es­siert sich für die Forschungen ihres Vaters, assis­tiert ihm und sam­melt über­haupt Wissen. Ihr Vater scheint sie einer­seits zu unter­stüt­zen, ande­rer­seits ver­weist er sie in ihre Schranken. Die Schranken, die die­se Zeit den Mädchen und Frauen zuweist, sind für Faith immer gegen­wär­tig, egal was sie denkt und tut. Doch sie ist nicht nur intel­li­gent und neu­gie­rig, son­dern auch vor­sich­tig – dann, wenn sie die Schranken überwindet.

Und das muss sie in der Geschichte, in die sie ver­wi­ckelt wird, öfter, denn bei der Ausgrabung auf Vane pas­siert erst ein Unfall und dann ein Mord. Das Opfer ist Faiths Vater, und zunächst weist alles auf Selbstmord hin, eine Sünde in jener Zeit, mit schlim­men Folgen für die Familie. Doch Faiths Vater benahm sich auf Vane selt­sam und auch ande­re Dinge fie­len und fal­len Faith auf, dar­un­ter ein Forschungsobjekt ihres Vaters, der Lügenbaum. Eine licht­scheue Pflanze, die zu wach­sen scheint, wenn man sie mit Lügen füt­tert. Faith will die Wahrheit über den Tod ihres Vaters her­aus­fin­den und nimmt den Baum zuhil­fe – doch damit und mit ihren Nachforschungen bringt sie sich selbst in gro­ße Gefahr …

Dicht gewebt und ein biss­chen düs­ter ist die­ses Buch von Frances Hardinge. Die Personen, deren Beziehungen und die Handlung sind kom­plex, es gibt kei­ne simp­len Antworten. Faith bewun­dert ihren Vater und will als Wissenschaftlerin in sei­ne Fußstapfen tre­ten. Doch Reverend Sunderly steht in Verdacht, bei sei­nen Forschungen betro­gen zu haben – Verleumdung oder nicht? Auf ihre Mutter schaut Faith eher her­ab, aber ist Myrtle Sunderly wirk­lich ein­fach gestrickt und nur auf ihren Vorteil bedacht? Aus einer Fülle von Jugendbüchern, die gut unter­hal­ten, aber eher flach blei­ben, sticht „Der Lügenbaum“ ganz klar her­aus. Weil er die­se ver­gan­ge­ne Zeit nicht nur schil­dert, son­dern auf­le­ben lässt. Weil sei­ne Heldin, Faith, mit ihrer Vielschichtigkeit fes­selt. Und nicht zuletzt: weil das Buch so span­nend ist.

Frances Hardinge: Der Lügenbaum
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Umschlagillustration: James Fraser
440 Seiten
ab 14 Jahren
Verlag Freies Geistesleben 2017
ISBN: 978–3‑7725–2798‑2
22 Euro