Franz Hohler: „Gleis 4“

Ein ruhi­ges Buch. Unaufgeregt. Eine ein­fa­che Geschichte, die in der Schweiz von heu­te spielt, Schweizer Orte und Worte inklu­si­ve, aber von vorn: Isabelle hat­te eine OP und will eine Woche spä­ter nach Italien flie­gen, um dort mit einer Freundin Urlaub zu machen. Im Bahnhof zum Flughafen bie­tet ihr ein älte­rer Mann freund­lich an, ihren Koffer die Treppe hoch­zu­tra­gen, und da sie wegen der OP noch nicht wie­der gänz­lich in Form ist, nimmt sie die Hilfe gern an. Oben auf Gleis 4 bricht der Mann jedoch zusam­men und stirbt. Isabelle hat ihn auf dem Bahnhof zum ers­ten Mal gese­hen, er ist ein Unbekannter für sie. Doch durch die Umstände sei­nes Todes und wegen eines Handys, das ihm gehör­te und im Durcheinander bei Isabelle lan­det, hört die Geschichte damit nicht auf, son­dern beginnt erst.

Isabelle kann kei­nen Schlusspunkt set­zen, der Tod des Unbekannten geht ihr all­zu nahe. Wer war die­ser Mann? Isabelle forscht nicht allein, son­dern mit ihrer Tochter und einer Frau, die dem Toten ver­bun­den war. Der Mann ver­brach­te den Großteil sei­nes Lebens in Kanada, wur­de jedoch in der Schweiz gebo­ren, ver­leb­te hier sei­ne Kindheit und Jugend – über die er als Erwachsener nie sprach. Isabelle kommt die­ser Lebensgeschichte Stück für Stück auf die Spur, und gleich­sam einem dunk­len Kapitel in der jün­ge­ren Schweizer Vergangenheit.

Ein Buch für den Kopf, nicht fürs Herz: „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“

Ja, Kopf oder Herz, das ist ein biss­chen pla­ka­tiv, aber es passt: Auf Empfehlung habe ich die­ser Tage Joël Dickers „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ gele­sen. Das Buch lag eine Weile her­um, unter ande­rem, weil es über 700 Seiten hat. Kleine Schrift. Die Zeit muss man ja erst mal haben. Und mein Bücherstapel ist groß. Als ich nun also las, konn­te ich nicht mehr auf­hö­ren. Und Seiten über­sprin­gen bzw. über­flie­gen, was man­che Wälzer pro­blem­los erlau­ben, ging lei­der auch nicht. Weil es dau­ernd wich­ti­ge Wendungen gab und kei­ne Seite zu viel war.

Es ist eine Art Krimi, mit Leiche und Ermittlungen. Es ermit­telt Marcus Goldman, Schriftsteller, Anfang drei­ßig, der einen Erfolgsroman ver­fasst hat und dem danach nichts Neues ein­fällt. Da kommt ihm der Fall (kann man wört­lich neh­men, Fall wie fal­len) sei­nes Mentors, des berühm­ten Schriftstellers Harry Quebert, gera­de recht. Natürlich nur aus Freundschaft reist Marcus in die Höhle des Löwen und ver­sucht her­aus­zu­be­kom­men, was vor drei­und­drei­ßig Jahren zwi­schen Harry Quebert und Nola geschah.

Das Buch wech­selt zwi­schen Vergangenheit (1975) und Gegenwart (2008), wie eine Zwiebel, Schicht um Schicht, ent­blät­tert Marcus die alte Geschichte, bis er am Ende schließ­lich auf die nack­te Wahrheit stößt. Vielleicht. Kurzweilig ist das Buch, fes­selnd. Aber es packt einen nicht unmit­tel­bar, es zieht einen nicht in einen emo­tio­na­len Sog, es bleibt eine Distanz, das Ganze ist gar zu per­fekt kon­stru­iert, man sieht zum Ende hin regel­recht den Autor, Joël Dicker, am Roman-Reißbrett vor sich, wie er noch eine Wendung rein­packt und dabei zufrie­den oder leicht ver­rucht grinst. Es ist nur „eine Art“ Krimi, da im Zentrum der Geschichte die zwei Schriftsteller, Marcus Goldman und Harry Quebert, ste­hen – ihre Mühen beim Schreiben, das Nichtschreibenkönnen, das glück­li­che Schreiben usw., noch dazu ist jedem Kapitel ein Tipp, den Mentor Quebert sei­nem Protegé Marcus einst zum Buchschreiben gege­ben hat, vorangestellt.

Zweierlei hat mich an dem Buch genervt: zum einen der Name der weib­li­chen Hauptfigur, Nola. Das klingt so schreck­lich nach „nölen“. Zum andern die Beziehung zwi­schen Harry Quebert und Nola. Ich ver­ra­te jetzt mal, dass der Mann über drei­ßig und das Mädchen fünf­zehn ist, als sie sich ver­lie­ben. Nun geht das Buch nicht ins Detail, der Autor über­lässt es der Fantasie des Lesers, ob die bei­den ins Bett stei­gen oder nicht. Jedenfalls duzt er sie und sie siezt ihn. Eisern. Wenn Joël Dicker auf Englisch geschrie­ben hät­te, könn­te man’s auf den Übersetzer schie­ben, aber das Original ist fran­zö­sisch, und da gibt es kein „you“, son­dern „tu“ und „vous“. Ein wich­ti­ges Element der Geschichte ist also die­se Liebe zu einer Minderjährigen. Die ver­meint­lich ganz gro­ße Liebe mit schmach­ten­dem Mädchen und Hin-und-weg-Mann, der sich zusam­men­rei­ßen will, weil das ja alles nicht geht mit der Kleinen. Muss das sein? Gähn!

Trotzdem mag ich das Buch. Weil es span­nend ist. Weil man sich nach dem Lesen noch den Kopf dar­über zer­bre­chen kann (wenn man Lust hat). Und weil es von Autoren und vom Schreiben handelt.

Keine Ahnung von Baseball

Wenn ein Roman „Die Kunst des Feldspiels“ heißt und im Klappentext schon etwas von Baseball steht, muss man sich nicht davon abschre­cken las­sen, auch wenn man kei­ne Ahnung von Baseball hat. Man hat doch von vie­len Dingen kei­ne Ahnung, über die man liest, und auch wenn Baseball tat­säch­lich eine nicht unwich­ti­ge Rolle in Chad Harbachs Debütroman spielt, stört das nicht. Mich hat es jeden­falls nicht gestört (bis auf eine Baseball-Ballung am Schluss). Fußball wäre für mich nicht bes­ser gewe­sen, das ist zwar ver­trau­ter, aber es inter­es­siert mich gar nicht. Noch weni­ger anspre­chend hät­te ich Tennis gefun­den, und Golf erst … Sportarten ste­hen nicht im luft­lee­ren Raum, man hat Bilder davon im Kopf, ein bestimm­tes Milieu vor Augen, die Menschen, die die­sen Sport betrei­ben und die Menschen, die sich die­sen Sport live oder im Fernsehen anschauen.

Baseball ist fremd, Baseball ist Amerika, Baseball ist – das gro­ße Unbekannte, so wie jedes Buch, wenn man es anfängt zu lesen. Wenn man mit „Die Kunst des Feldspiels“ fer­tig ist, wird Baseball nicht unbe­dingt ein guter Bekannter sein, aber ein Unbekannter auch nicht mehr. Endlich wie­der ein Buch, in dem sich nicht alles um eine Person oder um ein Liebespaar dreht, son­dern in dem ein fes­seln­des Beziehungsnetz gefloch­ten wird, fünf Personen im Zentrum, in der Peripherie noch eini­ge mehr, die auch nicht nur Wasserträger der Handlung sind. Man denkt an John Irving (der auf dem Buchcover zitiert wird, lobend äußert er sich über Chad Harbachs Roman), die­se Art von Figurennetz baut er eben­falls, sei­ne Geschichten und Leute sind viel­leicht noch etwas skur­ri­ler als die in „Die Kunst des Feldspiels“, die­se sind ziem­lich nor­mal, geer­det, die Leute von neben­an qua­si (wenn auch mit einer Prise Wunderbarkeit, die sie unver­wech­sel­bar macht), und sie sind so wahr­haf­tig dar­ge­stellt und reden eben­so, dass man sich an Stephen Kings Romane erin­nert fühlt. Und es gibt die­se Stellen, die man sich raus­schrei­ben will, raus­schrei­ben wür­de, müss­te man nicht ohne Pause wei­ter­le­sen. Ein rich­tig gutes Buch, eines, das man, trotz­dem es 600 Seiten stark ist (die Schrift ist eher klein), gar nicht mehr aus der Hand legen kann.