„Das Wunderreich von Nirgendwo“ von Ross MacKenzie

Der Anfang erin­nert an „Die unend­li­che Geschichte“: Ein Junge ist auf der Flucht vor einer Bande und schlüpft in einen Laden, in dem es vie­le wun­der­ba­re Dinge zu bestau­nen gibt, ein Mann ihn kri­tisch mus­tert und ein altes Buch ihn magisch anzieht. Der Junge ist Waise, lebt in einem Kinderheim in Glasgow und heißt Daniel Holmes. Der Mann ist Lucien Silver, ein Magier, und das Buch ist das „Buch der Wunder“, mit dem Lucien Silver Tag für Tag neue Räume im Wunderreich von Nirgendwo erschafft, in dem die Schausteller Blut aus Tinte haben und der Fantasie fast kei­ne Grenzen gesetzt sind.

Dass Daniel den magi­schen Laden betre­ten konn­te, obwohl ein Geschlossen-Schild an der Tür hing, ist schon etwas Besonderes. Doch dass er am nächs­ten Tag zurück­kehrt, ist außer­ge­wöhn­lich, und so kommt es, dass Lucien Silver ihn als Lehrling auf­nimmt. Mit dem Laden rei­sen sie durch Raum und Zeit und Daniel erfährt, was es mit dem Buch der Wunder auf sich hat und wer das geis­ter­haf­te Mädchen namens Ellie ist. Natürlich kommt auch die­se Geschichte nicht ohne Bösewicht aus, ein Mann aus Silvers Vergangenheit ver­folgt sie und wird zur töd­li­chen Gefahr für sie und das Wunderreich …

Die Buchidee ist nicht neu, aber gut, so viel steht fest. Die Umsetzung ist aller­dings eher soli­de, Ross MacKenzie lässt die Fantasie nicht wirk­lich vom Zaum, ein letz­ter Funke fehlt, dazu pas­send ist die Sprache recht sprö­de. Doch viel­leicht ist genau das eine Einladung, die eige­ne Fantasie flie­ßen zu las­sen und jenen Funken zu lie­fern – um ein Feuerwerk zu ent­fa­chen, wie es auf dem schö­nen, anspre­chen­den Cover des Buches zu sehen ist.

Ross MacKenzie: Das Wunderreich von Nirgendwo
Aus dem Englischen von Anne Brauner
366 Seiten
ab 11 Jahren
Verlag Freies Geistesleben, 2017
ISBN: 978–3‑7725–2799‑9
19 Euro

„Der Lügenbaum“ von Frances Hardinge

England, 19. Jahrhundert. Faiths Familie ver­lässt über­stürzt das Zuhause in Kent und reist zur Insel Vane, wo der Vater an einer Fossilienausgrabung teil­neh­men wird. Faith hat das Gefühl, sie wären auf der Flucht, doch Genaues weiß sie nicht, da ihre Eltern ihr nichts sagen. Ihre Eltern, das sind Reverend Erasmus Sunderly, der auch Naturwissenschaftler ist, und zwar Paläontologe, und Myrtle Sunderly, deren Job es ist, ihrem Ehemann den Rücken frei­zu­hal­ten, sie ist für die Kinder, den Haushalt, die Dienstboten zuständig.

Eine Zukunft wie ihre Mutter will die 14-jäh­ri­ge Faith nicht, sie inter­es­siert sich für die Forschungen ihres Vaters, assis­tiert ihm und sam­melt über­haupt Wissen. Ihr Vater scheint sie einer­seits zu unter­stüt­zen, ande­rer­seits ver­weist er sie in ihre Schranken. Die Schranken, die die­se Zeit den Mädchen und Frauen zuweist, sind für Faith immer gegen­wär­tig, egal was sie denkt und tut. Doch sie ist nicht nur intel­li­gent und neu­gie­rig, son­dern auch vor­sich­tig – dann, wenn sie die Schranken überwindet.

Und das muss sie in der Geschichte, in die sie ver­wi­ckelt wird, öfter, denn bei der Ausgrabung auf Vane pas­siert erst ein Unfall und dann ein Mord. Das Opfer ist Faiths Vater, und zunächst weist alles auf Selbstmord hin, eine Sünde in jener Zeit, mit schlim­men Folgen für die Familie. Doch Faiths Vater benahm sich auf Vane selt­sam und auch ande­re Dinge fie­len und fal­len Faith auf, dar­un­ter ein Forschungsobjekt ihres Vaters, der Lügenbaum. Eine licht­scheue Pflanze, die zu wach­sen scheint, wenn man sie mit Lügen füt­tert. Faith will die Wahrheit über den Tod ihres Vaters her­aus­fin­den und nimmt den Baum zuhil­fe – doch damit und mit ihren Nachforschungen bringt sie sich selbst in gro­ße Gefahr …

Dicht gewebt und ein biss­chen düs­ter ist die­ses Buch von Frances Hardinge. Die Personen, deren Beziehungen und die Handlung sind kom­plex, es gibt kei­ne simp­len Antworten. Faith bewun­dert ihren Vater und will als Wissenschaftlerin in sei­ne Fußstapfen tre­ten. Doch Reverend Sunderly steht in Verdacht, bei sei­nen Forschungen betro­gen zu haben – Verleumdung oder nicht? Auf ihre Mutter schaut Faith eher her­ab, aber ist Myrtle Sunderly wirk­lich ein­fach gestrickt und nur auf ihren Vorteil bedacht? Aus einer Fülle von Jugendbüchern, die gut unter­hal­ten, aber eher flach blei­ben, sticht „Der Lügenbaum“ ganz klar her­aus. Weil er die­se ver­gan­ge­ne Zeit nicht nur schil­dert, son­dern auf­le­ben lässt. Weil sei­ne Heldin, Faith, mit ihrer Vielschichtigkeit fes­selt. Und nicht zuletzt: weil das Buch so span­nend ist.

Frances Hardinge: Der Lügenbaum
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Umschlagillustration: James Fraser
440 Seiten
ab 14 Jahren
Verlag Freies Geistesleben 2017
ISBN: 978–3‑7725–2798‑2
22 Euro

„Als die Wolke bei uns wohnte“ von Sabine Bohlmann und Susanne Straßer

Einem Mädchen fällt auf dem Weg zum Kindergarten eine Wolke auf den Kopf. Nun, eher ein Wölkchen, denn es passt pro­blem­los in die klei­ne Kindergartentasche. Das Mädchen nimmt die Wolke mit nach Hause und will sie dort auf­päp­peln. Nachdem es eini­ges ohne Erfolg pro­biert hat, fragt es sei­ne Mutter, was Wolken essen, und erfährt: Wasserdampf. Das ist mit weni­gen Worten (und einer klei­nen Skizze) schön anschau­lich erklärt, und so bas­telt das Mädchen mit Spielsachen eine Vorrichtung, damit die Wolke Wasserdampf fut­tern kann.

Es funk­tio­niert, und die Wolke wächst. Auf den Illustrationen ist sie eine ganz nor­ma­le Wolke, ein Gesicht hat sie nicht, sie redet auch nicht. Dennoch ist sie dem Mädchen ein Freund, mit dem es spie­len kann. Eines Tages ent­de­cken Eltern und Bruder die Wolke, reagie­ren aber gelas­sen und neh­men die Wolke qua­si als neu­es Familienmitglied auf. Die Wolke wächst aller­dings rasant und hin­ter­lässt stän­dig Pfützen in der Wohnung … bis der Familienrat beschließt, dass es so nicht wei­ter­ge­hen kann. Es heißt Abschied neh­men. Oder doch nicht?

Das Mädchen selbst erzählt die Wolkengeschichte, Wörter und Bilder har­mo­nie­ren wun­der­bar. Mal füllt ein Bild eine Doppelseite aus, mal fin­den dar­auf meh­re­re Platz, das ist abwechs­lungs­reich, eben­so wie die Bildmotive, die Einblicke in die Lebenswelt des Mädchens und sei­ner Familie geben. Von Kinderzimmer über Küche bis Wohnzimmer, von Kindergarten bis Urlaubsstrand – Kinder, die sich die Bilder anschau­en, dürf­ten vie­les wiedererkennen.

Die Illustrationen sind detail­liert, wir­ken aber weder über­la­den noch unru­hig, es gibt ein­fach viel zu sehen. Wenn das Mädchen zu Hause ist, ist immer sein Haustier mit im Bild, ein klei­nes brau­nes Kaninchen. Mal mehr, mal weni­ger ver­steckt, das kann man also suchen (las­sen). Susanne Straßer, die Illustratorin, scheint auch ein Faible für Punkte zu haben, nicht nur das Mädchen trägt fast immer ein Kleidungsstück mit Punkten. Der Opa des Mädchens sieht aus wie Fritz J. Raddatz, auf einem Bild sind Plattenbauten zu sehen, die ein­fach Wohnhäuser und nicht depri­mie­rend sind, und auch sonst ist eini­ges zu entdecken.

Nicht zu ver­ges­sen: Es ist eine schö­ne Geschichte von einer Freundschaft, auch wenn die Wolke ein nicht gera­de all­täg­li­cher Freund ist. Aber war­um nicht? Freundschaft hat eben vie­le Gesichter …

Als die Wolke bei uns wohnte
Text: Sabine Bohlmann, Illustrationen: Susanne Straßer
Lektorat: Christiane Lawall
32 Seiten
ab 4 Jahren
annet­te betz, 2017
ISBN: 978–3‑219–11729‑5
14,95 Euro